Folge der Leiter!

Äussere Einflüsse auf die Arbeit Kazuo Shinoharas sind nur andeutungsweise erkennbar. Ein Indiz führt jedoch zur französischen Malerei und von ihr zurück zur kulturellen Vergangenheit Japans. In seinen Überlegungen begegnet Tibor Joanelly nicht nur Paul Cézanne, sondern auch der Dritten Person im Werk des japanischen Meisters.

Was wäre, wenn sich der bedeutende Teil eines architektonischen Werks auf einen einzigen Moment reduzieren liesse – auf eine simple Erkenntnis, vielleicht bei der Lektüre einer Fachzeitschrift oder auf die plötzliche Eingebung während einer Studienreise? Was würde all dies für das ganze Werk bedeuten? Würde es entzaubert? Oder erschiene es dadurch nachvollziehbarer und tiefer zugleich?

Zweifelsohne beträte man mit einem solchen Versuch das Reich der entfesselten Plausibilität, gleich einer Art Architektur-Verschwörungstheorie: Ein einzelnes Zeichen erfüllte das ganze komplexe Geflecht eines Werks mit Sinn. Abhängigkeiten, Referenzen, Begriffe, Metaphern und Zufälle, begonnene und abgebrochene und wieder aufgenommene Imaginationen und Fiktionen fänden in einer Logik zusammen, die sich vollständig und schlüssig in ein paar realisierten Bauten erfüllt.

Wie auch immer: Der folgende Aufsatz versucht genau das – er will einen Moment im Werk des japanischen Architekten Kazuo Shinohara (1925–2006) festhalten, der etwa in der Hälfte seiner Schaffenszeit einen Wendepunkt bedeutete und damit auch eine theoretische «Maschine» in Gang gesetzt hat. Dieser Moment lässt sich, das ist die steile These, an einem einzelnen Gegenstand festmachen: an einer Leiter.

Tanikawa House

Sie steht im 1974 fertiggestellten Tanikawa House, einem Wochenendhaus in einem Waldstück von Kita-Karuizawa, eine halbtägige Reise nordwestlich von Tokio gelegen. Shinohara baute es für den damals aufstrebenden und heute bekannten Dichter Shuntarō Tanikawa (1931). Das Haus ist ein Schlüsselwerk Shinoharas und kann – nicht unbedingt typisch – als ein künstlerisches Projekt zwischen Bauherr und Architekt gesehen werden. Dem Entwurf ging ein Gedicht Tanikawas voraus, das als Motto eine sehr ungewöhnliche Raumaufteilung vorbestimmte:

«Winter house or pioneer cabin (house)
Summer space or church for a pantheist (need not be a house)» 1

Die «Kirche für einen Pantheisten» ist ein seltsamer Raum – ohne erkennbaren Zweck und vor allem wenig brauchbar im herkömmlichen Sinn. Ihr Boden ist gestampfte Erde und abschüssig – zu wenig schräg und zu feucht, um als Sitzgelegenheit etwa für Lesungen zu dienen. Der Erdboden scheint allein eingerichtet, um das abschüssige Gelände ins Haus zu holen und um wie der umgebende Wald in einer ziellosen Bewegung durchwandert zu werden. Neben zwei dünnen Stützen mit Windrispen beherrschen ihn eine Bank, die Skulptur eines Hahns, ein Becken für Wasserentnahme und die erwähnte, skulptural wirkende Leiter.

Der sakral angelegte Sommerraum scheint kaum je gebraucht worden zu sein, nicht zuletzt auch, weil der einstige Besitzer das Haus nur wenig nutzte; doch für den Architekten entfesselte er eine Kette von Begriffen und Metaphern, die er 1975 in einem Essay in The Japan Architect zu einer eigentlichen Raumtheorie verdichtete. Neben dem recht gut verständlichen Begriff der «Transversalität» führte Shinohara sehr apodiktisch denjenigen der «Dritten Person Einzahl» ein:

«The act of traversing expresses a basic function in relation to the combination of site-level differential and the geometric space of the main room. […] as one traverses this space, one’s vision alters from perspective to reverse perspective and back to perspective again. The alterations in the condition occur in the first person. But I am interested in what happens to change the condition of the space when someone traverses it. This takes place in the third person. Alteration in the first person can easily be included in a general background of phenomenalism; in other words, such alteration can be regarded as a special authority for the recognition of the first person. The changes that take place in the third person, however, are not ordinary. The survey of physical space is made by the third person.» 2

Während in diesem eher kryptisch geschriebenen Abschnitt immerhin klar wird, was mit der «Ersten Person Einzahl» gemeint ist, bleibt die «Dritte Person Einzahl» kaum fassbar. Die Aussage lässt sich zwar mit einem theatralischen Setting von beobachtender und beobachteter Person vergleichen, doch dieses Spiel mit der Analogie bleibt reichlich abstrakt: Denn es ist überhaupt nicht klar, wer oder was diese beobachtende Dritte Person sein soll.

Folgt man dem Hinweis, dass die Erste Person mit einem phänomenalen, also leiblich bestimmten Blick durch den Raum hindurchschweift, so liesse sich sehr abstrakt und umgekehrt schliessen, dass die Dritte Person aus einer objektivierten, cartesischen Perspektive auf den Raum schaut. Das ist allerdings kein Schluss, der das Verständnis erleichtert.

Shinohara äusserte sich nach dem zitierten Aufsatz nie mehr zu den hier implizierten theatralischen Raumbeziehungen, doch es gibt genug Gründe, um anzunehmen, dass sie sein Werk schon vor Tanikawa House grundierten und danach mit jedem Entwurf immer wichtiger wurden. Und sich gegen Ende seiner Schaffenszeit sogar zum bestimmenden Motiv entwickelten. Für ein Verständnis dieser Entwicklung folge man wie im Titel aufgefordert: der Leiter im Summer Space.

Paul Cézannes gekippte Landschaft

Sie ist dieselbe wie im Atelier von Paul Cézanne (1839–1906) in Aix-en-ProvenceA, eine Nachbildung, angepasst für den Stand auf schrägem Boden im Tanikawa House. Der Nachbau muss sehr bewusst erfolgt sein, dies wird indirekt bestätigt durch eine Aussage des Bauherrn.3 Doch was es mit der Leiter wirklich auf sich hat, sagen weder er noch Shinohara.

Immerhin scheinen Leitern im Werk des Architekten eine Rolle gespielt zu haben, sie sind ein wiederkehrendes Motiv. Eine erste Leiter taucht auf im Umbrella House (1961), sie führt von der offenen Essküche auf eine Art Flohboden über dem mit Tatami gedeckten Schlafbereich. Dasselbe Motiv findet sich in House of Earth (1966) und in South House in Hanayama (1968). Keine wirkliche Leiter, aber eine steile Leitertreppe findet sich im Prism House (1974), um dann gleich vom viel prominenteren Auftritt der besagten Leiter in Tanikawa House überstrahlt zu werden. Eine weitere Leitertreppe findet sich alsdann in House in Uehara (1976), diese ist auch die letzte gebaute Variante dieses Themas. Eine richtige Leiter plante Shinohara erst wieder im nicht realisierten Projekt für House in Tateshima (2006), das er bis zu seinem Tod für sich selbst und seine Familie verfolgte.

Im Fall von Tanikawa House führt eine erste, naheliegende Vermutung zu einer vorläufigen Erkenntnis: Die Leiter würde sich bei Shinohara wie bei Cézanne dazu eignen, eine «Landschaft» von oben zu betrachten, eine solche würde durch diesen Blick sozusagen objektiviert. Tatsächlich wirken manche von Cézannes gemalten Landschaften wie von einem erhöhten Standpunkt aus betrachtet – also zum Beispiel vom Kopf einer Leiter aus. Doch Cézanne verwendete keine Leitern plein air; das Objekt in seinem Atelier war eine Arbeitshilfe für das Malen grossformatiger Bilder. Aber der Landschaftsbezug ist auf eine andere Art evident. Der in Aix-en-Provence geborene Künstler bevorzugte für seine Landschaftsbilder tatsächlich erhöhte Standorte.

The View from Everywhere

Cézanne stellte seine Landschaften so dar, wie er sie unmittelbar sah: Die Objekte in der Ferne erschienen ihm im Verhältnis zu Vorder- und Mittelgrund grösser, was in vielen Bildern ab etwa 1880 zu einer Art gekrümmtem Bildraum und zu einem Kippeffekt führte. Eine weitere, für die hier folgende Argumentation plausible Erklärung liegt in der Faszination Cézannes für japanische Kunst, insbesondere für japanische Holzschnitte von Katsushika Hokusai (1760–1849) und Utagawa Hiroshige (1797–1858).4 Kompositorische Ähnlichkeiten wurden bereits 1913 durch den deutschen Kunsthistoriker Fritz Burger (1877–1916) festgestellt, der etwa die besondere und oft eingesetzte Vogelperspektive in den provenzalischen Landschaftsbildern von Cézanne mit dem räumlichen Ausdruck bei Hokusais 36 Ansichten des Bergs Fuji in Verbindung brachte.5 So gleichen sich etwa Cézannes Mont Sainte-Victoire von 1890 und Hokusais Katakura in der Provinz Suruga (1829–1831) sehr stark, abgesehen vom Personal und einer spiegelverkehrt gesetzten Pinie im Bildaufbau.

Über Hokusai verdichten sich die Indizien einer bewussten Bezugnahme Shinoharas auf Cézanne. Ein möglicher Mittler war der Künstler Gyōji Nomiyama (1920–2023), für den Shinohara zwei Häuser baute (Sea Stairway, 1971 in Tokio Nerima, und House in Itoshima, 1976). Nomiyama lebte von 1952 bis 1964 in Frankreich und setzte sich dort mit Ölmalerei, insbesondere von Cézanne auseinander. Dem Bau des ersten Hauses ging ein langer Prozess des Kennenlernens voraus – und damit wohl auch Gespräche über Kunst. Ein weiterer Mittler zwischen Frankreich und Japan war Kōji Taki (1928–2011), ein Kulturphilosoph und Hobbyfotograf, der ein ausgesprochenes Faible für die französische Kultur hatte. Shinohara hatte Taki anlässlich dessen Kritik einer Ausstellung seiner eigenen Arbeiten kennengelernt, und aus diesem Zusammentreffen erwuchs eine eingeschworene und äusserst fruchtbare Freundschaft. 6

Es ist zu vermuten, dass Taki Shinohara eine wichtige Referenz vermittelte: 1970 erschien erstmals der 1945 geschriebene Aufsatz von Maurice Merleau-Ponty (1908–1961), Le doute de Cézanne, auf japanisch übersetzt.7 Der französische Philosoph bringt darin das Werk des Künstlers Cézanne direkt mit dem Konzept der Phänomenologie in Verbindung. Merleau-Ponty spricht von der Simultaneität «erlebter» und «objektiver» Perspektiven bei Cézanne, was sehr plausibel bei Shinohara als Gegensatz zwischen phänomenalem und geometrischem oder «physischem» Raum widerhallt.

Es ist anzunehmen, dass Taki Merleau-Pontys einflussreichen Text kannte und damit für Shinohara die gedankliche Verbindung von schrägem Erdboden, Phänomenologie und Cézanne herstellte. Es könnte durchaus sein, dass überhaupt die Leiter eine Idee von Taki war – dies auch obwohl oder gerade weil bekannt ist, dass die Idee zusammen mit dem Auftraggeber für Tanikawa House entwickelt und umgesetzt worden war.8

Wie auch immer: Das Werk von Cézanne musste für Shinoharas Interesse am architektonischen Raum eine grosse Wichtigkeit haben. Denn der Architekt, der in der Präsentation seiner Werke nichts dem Zufall überliess, legte mit der Leiter jenseits seiner sehr idiosynkratischen Texte eine untypische wie wertvolle Spur zum eigenen Denken.

 

Divergierende Fluchtpunkte

Die provenzalisch-japanischen Implikationen gehen aber noch weiter. Sie hängen mit der Art und Weise zusammen, wie Cézanne Landschaften und Stillleben malte. Beide sind ab circa 1880 durch divergierende Fluchtpunkte charakterisiert, was gerade den Philosophen Maurice Merleau-Ponty im erwähnten, 1945 geschriebenen Aufsatz zu der Folgerung führte, dass in Cézannes Bildern sowohl die Dinge selbst dargestellt seien wie auch der Prozess ihrer Wahrnehmung. Merleau-Ponty spricht von «objektiven» und «primordialen» Dimensionen. Cézanne würde demnach diesen Unterschied in seinen Bildern aufheben.9 

Tatsächlich erzeugen viele von Cézannes Landschaften, Dorfbildern oder Stillleben ein starkes Gefühl sowohl «für die Dinge selbst» wie auch für das dargestellte Ganze. Der Kunsthistoriker Paul Smith spricht in einem bemerkenswerten Essay von einer «Sicht von überall».B

Die gleichzeitige Verbindung von dargestelltem Objekt und Gesamtzusammenhang ruht primär in der phänomenal-sinnlichen Fusion von Betrachtenden und Betrachtetem – Cézanne hat eine eigentliche Technik entwickelt, um sie herbeizuführen. Mit Merleau-Ponty und Smith auf den Punkt gebracht: In den Bildern von Cézanne «greifen wir nach dem Dargestellten ebenso, wie wir es sehen» oder es in einer grösseren Szenerie über das «Gehen» überblicken. Eine solche erzwungene, virtuelle Umherbewegung im Bild offenbare die Bedeutung der Objekte viel besser als ein statischer, zentrierter Blickpunkt. Damit führte Cézanne eine erlebbare Zeit in das statische Bild ein.

Die für Cézanne typische, «gelebte Perspektive» spannt gemäss Smith einen relationalen Bildraum auf, in dem alle Objekte miteinander in Beziehung treten, zu Protagonisten werden. Respektive: Durch den Wahrnehmungsprozess treten wir selbst an deren Stelle, werden zu Handelnden und lösen damit jede Form von übergeordneter Perspektive auf. Die Objekte «formen ein eng gestricktes ‹System› von Beziehungen (oder eine ‹Welt›), eine organisierte Struktur, die es uns erlaubt, von uns in ihrer Gesamtheit visuell erfasst zu werden».

Cézanne hat sich intensiv mit Perspektive und Projektionsverfahren beschäftigt, wie Aufzeichnungen zu perspektivischen Lehrbüchern und die Bewunderung für den mittelalterlichen Künstler Villard de Honnecourt (ca. 1200–1250) zeigen. Und visuelle Projektion ist auch dasjenige Medium, das in diesem Aufsatz neben dem Zeichen der Leiter die Ähnlichkeiten zwischen Cézanne und Shinohara vermittelt. Cézannes Inspirationsquellen aus Japan – die Holzschnitte von Hokusai und Hiroshige – erzeugen mit ihren parallel- oder schrägperspektivischen Darstellungen jenen «objektivierenden» Effekt, der einen passenden Schlüssel für das inhaltliche Verständnis der Ähnlichkeiten bietet. Smith bringt es auf den Punkt: «Parallelprojektionen können starke dreidimensionale Formen und simultan allozentrische [also objektivierende] räumliche Beziehungen produzieren, die für verschiedene Blickpunkte charakteristisch sind.»10

 

Rakuchū rakugai

Eine gekippte Landschaft, ein objektivierter Blick: Die Darstellung des Raums kennt in der japanischen höfischen Kunst vor dem Holzdruck des 19. Jahrhunderts mindestens zwei Formen, die solche Wahrnehmungen auslösen: Fukinuki yatai 11  – axonometrische Darstellungen von Personen und Gebäuden «ohne Dach» auf Emaki-Bildrollen sowie Rakuchū rakugai 12 – «Szenen in und um die Hauptstadt» auf Wandschirmen. Beide Darstellungsformen erleben ihre Hochblüte im 12., respektive im 16. und 17. Jahrhundert.

Shinohara hatte sich ab 1960 intensiv mit den gestalterischen Grundlagen oder Methoden der traditionellen japanischen Architektur auseinandergesetzt,13 und es ist anzunehmen, dass er die erwähnten Darstellungsformen kannte und intensiv studiert hatte – und sie in der Kunst von Cézanne wiederfand. Besonders die Betrachtung von Rakuchū rakugai erweckt die Illusion einer Landschaft auf schräger Ebene: Steht man vor einem solchen Wandschirm, so kippt der Blick unmittelbar in die Tiefe des virtuell dargestellten Raums; er folgt der streng linksunten-rechtsoben (oder umgekehrt) ausgerichteten Projektion von Einzelszenen, bewegt sich zwischen hinten und vorne hin- und herspringend durch den Bildraum. Nicht zuletzt wird der Blick durch Wolken- oder Nebelschwaden tiefenräumlich stimuliert, die das gleichwertig-harmonisierende Nebeneinander von menschlichen Szenen und gebauter Architektur überlagern; damit erscheinen jede Szene, jedes Objekt zugleich fokussiert und distanziert. Die Bildinhalte wirken wie auf einem Cézanne’schen Tisch präsentiert – ohne eigentliche Perspektive. Jedes Objekt, jede Szene steht für sich allein und ist zugleich eingebettet in ein übergeordnetes, logisches Ganzes. In diesem Feld aktivieren sich die gleichwertigen Szenen gegenseitig.

Rakuchū rakugai zeigt alles, was die Hauptstadt Kyōto zu bieten hatte. Durch die axonometrische Darstellung erscheint jede Szene, jedes Architekturelement mit Eigenvalue belebt – um ein Wort von Shinohara zu verwenden. Der Wandschirm zeigt The View from Everywhere: Die Darstellung selbst ist Dritte Person, also gewissermassen unbeteiligt, distanziert, eben objektiv und enzyklopädisch; das Erleben des Bildes ist aber über die dargestellten Handlungen und den Tiefeneffekt Erste Person, phänomenal, unmittelbar, aktiviert.

Die Wahrnehmung des traditionellen japanischen Raums charakterisierte Shinohara bereits zehn Jahre vor Tanikawa House, in bemerkenswerter Analogie zu Merleau-Ponty, als eine Hin- und Herbewegung zwischen Erster, Zweiter (?) und Dritter Person. Der Hintergrund ist eine Auseinandersetzung mit dem architektonischen Raum im Vergleich zwischen West und Ost:

«Space of contemporary architecture is like [Frank Lloyd] Wright’s space, that is, a space recorded by the movement of the human eye, comparable to the world narrated by the protagonist who speaks in first person, the «I» of literature. Since Renaissance, space is constituted by the presence of the «I», so it is natural for us to think that the point of view is the human one. But, in the architecture of the previous eras what points of view existed? Was there not a different mechanism of the point of view? Looking at the particular composition of traditional Japanese architecture, such as that of Jiko-in [the Buddhist temple in Nara], it shows us a completely different mechanism of the point of view. The point of view there does not belong to man but to architecture itself, as if in literature the world was described by the third person, that is, a universal person who embodies history. Reflecting on these different mechanisms of the point of view I began to think that by freely changing the first, second and third person we can find a new way of recording space. Or, perhaps, that introducing the point of view of a fourth person, who has nothing to do with the previous three, we could describe a «space without point of view».14

Den Text schrieb Shinohara 1964, ziemlich genau 300 Jahre nach der Errichtung des erwähnten Tempels (1663). In der Zeit zwischen Muromachi- (1338–1573) und Edo-Periode (1603–1868) kann in Japan von einer homogenen, höfisch-urban geprägten Kultur der Eliten ausgegangen werden, bei der Malerei und Architektur unter denselben Bedingungen entstanden. Allein damit impliziert Shinoharas beschriebene Dritte Person auch den urbanen Blick von Rakuchū rakugai. Oder besser: einen abgeschlossenen Kosmos, der in der Malerei wie in der Architektur keine Unterscheidung zwischen Stadt und Haus macht. Auch wenn Shinohara in den bis heute übersetzten Texten keine direkten Aussagen zu Rakuchū rakugai macht, so erscheint diese traditionelle Darstellungsform aufgrund der explizit gemachten Bezüge zu Cézanne wie eine Art unsichtbares oder verschwiegenes Medium, welches das Denken und Schreiben des Architekten begleitete. Denn die Gleichsetzung von Architektur und Literatur kann doppelt gelesen werden: nämlich sowohl als der Grundsatz, dass ein Haus Architektur (als Kunstform) sein müsse, wie auch als tiefe strukturelle Analogie zwischen Haus und Stadt. Der analoge Übergang vom Raum des einzelnen Hauses zum Stadtraum wird Thema des zweiten Teils dieses Aufsatzes sein.

Vom Haus zur Stadt zum Haus

Die Auseinandersetzung mit Techniken und Darstellungsformen der japanischen Tradition wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Shinohara und seinen Mitlebenden aktiv verfolgt – und Anfang der 1960er Jahre wurde diese Recherche von der japanischen Ästhetik im Allgemeinen und dem «japanischen Raum» im Speziellen auf die Analyse des Siedlungsraums ausgeweitet. Ein Beispiel dafür ist die im Dezember 1963 erschienene Ausgabe der Fachzeitschrift Kenchiku bunka.15 Es ist davon auszugehen, dass Shinohara die Ausgabe kannte. Rakuchū rakugai wird darin eingehend als genuin japanische Stadtdarstellungsform diskutiert und wie im obigen Zitat in ein Verhältnis zu westlichen Beispielen gesetzt.

Der kurze Aufsatz zu Rakuchū rakugai ist aufschlussreich. Er liest sich wie die Beschreibung jenes Raums, den Shinohara 1974 mit Tanikawa House realisierte und ein Jahr später theoretisch zu bestimmen suchte: Gemäss Teiji Itō und seinen Mitautoren mache die axonometrische Darstellung in Rakuchū rakugai «keinen Unterschied in der räumlichen Dichte», und dadurch liesse sich «der ganze Raum einheitlich erfassen, ohne subjektive Betonung, nur mit einer ruhigen Logik». Dabei würde der «Fokus in die Hände der Betrachtenden» gelegt. Itō und Mitautoren beschreiben eine Art topologischen Raum, ein Beziehungsnetz zwischen den dargestellten Szenen:

«Das Bild des Raums vom Mandala bis zu Rakuchū rakugai war eigentlich ein Raum relativer Beziehungen, in dem die Symbole [regelmässig] verteilt sind. Die kognitive Struktur unseres urbanen Raums ist keineswegs eine Anhäufung inhaltlicher Beschreibungen, sondern dessen Erweiterung durch eine Summe rhythmischer Eindrücke. Wenn die Summe solcher Eindrücke das reale Bild des Stadtraums ist, dann ist die Wahrnehmung einzelner Elemente auch ausreichend wirksam für den Raum, der nur durch das relative Verhältnis der diskontinuierlichen Anordnung festgelegt wird.»16

In Rakuchū rakugai wird der Eindruck von Diskontinuität wesentlich durch die zwischen den Szenen wabernden Wolken- oder Nebelschwaden verstärkt; sie unterbrechen den Wahrnehmungsprozess und vereinzeln und individualisieren die dargestellten Objekte – dieser Effekt ähnelt in gewisser Weise Cézannes multi-perspektivischem Ausspielen verschiedener Flucht- und Blickpunkte.

Diskontinuität ist ein wesentliches Thema bei Shinohara. Mit der Beschreibung von Rakuchū rakugai wird es aber noch Shinohara- und Cézanne’esker: So entstehe gemäss Itō und Mitautoren die «räumliche Emotion des Individuums» durch «die bildgebende Perspektive – durch die stetige Bewegung des Blickwinkels, die es in der europäischen Stadtdarstellung nicht gibt».17 Neben dem transkulturellen Blick ist das Hervorrufen von Emotion durch Architektur seit Beginn der 1960er Jahre gerade bei Shinohara ein wichtiges Thema.18 Als wäre dies nicht genug, so deutet der Text im Heft und Buch jene Form urbanen Erlebens an, die Shinohara mit dem Begriff der «Transversalität» konzeptualisiert und die für sein späteres Schaffen zentral wird: Der in Rakuchū rakugai dargestellte städtische Raum Japans biete gemäss Itō und Mitautoren:

«jenes typische Bild, das [eine] Anordnung von Punkten nachzeichnet […]. Die menschliche Raumerfahrung erzeugt durch das Nachzeichnen dieser Punkte eine lineare Erinnerungslinie. […] Der Raum entsteht erst, wenn der Mensch ihn betritt und erlebt.»19

Transversale Bewegung durch Stadt und Haus

Den Begriff «Transversalität» borgte sich Shinohara bei Gilles Deleuze (1925–1995), dessen Essay Proust und die Zeichen er durch den schon erwähnten Kōji Taki kennengelernt hatte.20 Eine lange Geschichte kurz erzählt: Taki war Mitbegründer der experimentellen Fotozeitschrift Provoke, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kritisch und einer neuen Ästhetik verpflichtet das japanische Leben zwischen studentischem Aufbegehren, verzweifelter Lust, militärischer und wirtschaftlicher Ausbeutung und experimenteller Kunst dokumentierte.21 Die in Provoke festgehaltenen fotografischen Streifzüge sind nicht nur eine Dokumentation urbaner Widersprüche, sondern sie spiegeln auch eine dramatische Sicht auf die zeitgenössische Stadt aus der Perspektive der Ersten Person, die bis anhin in Japan keine Vorbilder hatte. Aus ihrer Summe entstand ein transversales Erste-Dritte-Person-Panorama.

Shinohara verwendete das Prinzip der Transversalität für den Weg einer langsam schreitenden Person durch den Sommerraum von Tanikawa House. Eine solche würde im Erleben die verschiedenen räumlichen Elemente verbinden: den schrägen Erdboden, die Fenster, den Wald, die Stützen, das Dach. Mit der Bewegung durch den Raum werden auch Leiter, Sitzbank und Hahn ähnlich wie architektonische Objekte auf dem Weg durch eine Stadtlandschaft zu einem Gefühl von Totalität synthetisiert.

Transversalität ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Erklärung für die räumliche Wahrnehmung zwischen fragmentierten Objekten in Stadt und Haus. Im Falle von Shinohara gibt erst das Zeichen der Leiter Auskunft über die Art und Weise, wie dieser transversale Raum beschaffen ist: er entsteht, durchaus im Sinne von Merleau-Ponty, aus der Vermischung einer virtuellen und tatsächlichen Hin- und Herbewegung eines Objekts zwischen anderen Objekten, zwischen «primordialen» und «objektiven» Wahrnehmungszuständen. Die Leiter auf der geneigten Fläche im Sommerraum von Tanikawa House ist dasjenige Medium, das Shinoharas Entwurfsabsichten mit dem «primitiven» und zugleich objektivierenden Blick von Cézanne verbindet.

Es fällt nicht schwer, im Zeichen der Leiter noch mehr zu erkennen: nämlich ein Symbol für das kompliziert-widersprüchliche Verhältnis der japanischen Architektur zur Stadt, zwischen autonomem Objekt und anonymer Konstruktion, die beide gleichermassen im grösseren Ganzen aufgehen. Denn Shinoharas ästhetisch-philosophische Andeutungen zum japanischen Raum sind typisch für ihre Zeit. Sie sind nicht zuletzt Ausdruck einer Suche nach Identität in der Folge der Katastrophe des zweiten Weltkriegs und der darauffolgenden Veränderung der Lebenswelt durch Wachstum und Kommerzialisierung. Sie prägen eine ganze Generation von Architekturschaffenden – eine Generation wohlgemerkt, die das heutige Bild der japanischen Architektur im Westen bestimmt hat.  

 ...to be continued.

 

Bibliografie:

  • Burger, Fritz Cézanne und Hodler: Einführung in die Probleme der Malerei der Gegenwart, München 1913, S. 95–96. 
  • Cesaro, Giorgia «Modernity From the Past: Kazuo Shinohara’s Fourth Space», in: Regionalism, Nationalism & Modern Architecture Conference Proceedings, Porto 2018, S. 87; Englischer Auszug aus: Cesaro, Giorgia, l’Eco dello spazio. Forme, metodi e logica nell’architettura giapponese, Milano 2021 (eine durch das Shinohara-Archiv am Tokyo Tech nicht autorisierte Italienisch-Übersetzung von Shinoharas Buch Jūtaku kenchiku, Tokio 1964.) 
  • Dufour, Diane / Witkovsky, Matthew S. Provoke: Between Protest and Performance – Photography in Japan 1960/1975, Göttingen 2016. 
  • Gilles Deleuze, Gilles Proust und die Zeichen, Berlin 1993; Original: Marcel Proust et les signes, Paris 1964. 
  • Kerez, Christian «‹Ich hatte eine Skulptur erworben›. Der Bauherr der Tanikawa Residence im Gespräch mit Christian Kerez», in: Werk, Bauen + Wohnen 12–2015, S. 24. 
  • Massip-Bosch, Enric Five Forms of Emotion. Kazuo Shinohara and the House as Work of Art, Doktorarbeit an der Universitat Politècnica de Catalunya, Barcelona 2015. 
  • Maurice Merleau-Ponty, Maurice «Le doute de Cézanne», in: Sens et non-sens, Paris 1948; japanische Übersetzung durch Nagato, Tokio Imi to muimi, Tokio 1970. 
  • Menges, Axel (Hg.), Kazuo Shinohara, Berlin 1994, S. 141–142. 
  • Okuyama, Shin-Ichi «Kongenialer Blick: Kazuo Shinohara und der Philosoph Kōji Taki», in: Werk, Bauen + Wohnen, S. 28–31.  
  • Shinohara, Kazuo «When Naked Space is Traversed», in: JA The Japan Architect, Februar 1976, S. 64–69, Original: Kazuo Shinohara, «Ragyō no kūkan no ōdan suru toki», in: Shinkenchiku, Tokyo, Oktober 1975, S. 158–163. 
  • Smith, Paul «Cézanne’s ‹Primitive› Perspektive or the ‹View from Everywhere›», in: The Art Bulletin, 1–2013 (März), S. 102–119. 
  • Tanaka, Hidemichi «Cézanne and ‹Japonisme›», in: Artibus et Historiae, 2001, Band 22, Jg. 44, S. 201–220.

Folge der Leiter!

22.3.2024

Teil 1: Shinohara, Cézanne und die Dritte Person

Äussere Einflüsse auf die Arbeit Kazuo Shinoharas sind nur andeutungsweise erkennbar. Ein Indiz führt jedoch zur französischen Malerei und von ihr zurück zur kulturellen Vergangenheit Japans. In seinen Überlegungen begegnet Tibor Joanelly nicht nur Paul Cézanne, sondern auch der Dritten Person im Werk des japanischen Meisters.

1 Shinohara 1976, S. 65.

Was wäre, wenn sich der bedeutende Teil eines architektonischen Werks auf einen einzigen Moment reduzieren liesse – auf eine simple Erkenntnis, vielleicht bei der Lektüre einer Fachzeitschrift oder auf die plötzliche Eingebung während einer Studienreise? Was würde all dies für das ganze Werk bedeuten? Würde es entzaubert? Oder erschiene es dadurch nachvollziehbarer und tiefer zugleich?

Zweifelsohne beträte man mit einem solchen Versuch das Reich der entfesselten Plausibilität, gleich einer Art Architektur-Verschwörungstheorie: Ein einzelnes Zeichen erfüllte das ganze komplexe Geflecht eines Werks mit Sinn. Abhängigkeiten, Referenzen, Begriffe, Metaphern und Zufälle, begonnene und abgebrochene und wieder aufgenommene Imaginationen und Fiktionen fänden in einer Logik zusammen, die sich vollständig und schlüssig in ein paar realisierten Bauten erfüllt.

Wie auch immer: Der folgende Aufsatz versucht genau das – er will einen Moment im Werk des japanischen Architekten Kazuo Shinohara (1925–2006) festhalten, der etwa in der Hälfte seiner Schaffenszeit einen Wendepunkt bedeutete und damit auch eine theoretische «Maschine» in Gang gesetzt hat. Dieser Moment lässt sich, das ist die steile These, an einem einzelnen Gegenstand festmachen: an einer Leiter.

Tanikawa House

Sie steht im 1974 fertiggestellten Tanikawa House, einem Wochenendhaus in einem Waldstück von Kita-Karuizawa, eine halbtägige Reise nordwestlich von Tokio gelegen. Shinohara baute es für den damals aufstrebenden und heute bekannten Dichter Shuntarō Tanikawa (1931). Das Haus ist ein Schlüsselwerk Shinoharas und kann – nicht unbedingt typisch – als ein künstlerisches Projekt zwischen Bauherr und Architekt gesehen werden. Dem Entwurf ging ein Gedicht Tanikawas voraus, das als Motto eine sehr ungewöhnliche Raumaufteilung vorbestimmte:

«Winter house or pioneer cabin (house)
Summer space or church for a pantheist (need not be a house)» 1

Theatralisches Setting im Sommerraum von Tanikawa House: Wer aber ist die beobachtende «Dritte Person»?  – ©Kōji Taki, courtesy of The Kazuo Shinohara Estate at Tokyo Tech
Theatralisches Setting im Sommerraum von Tanikawa House: Wer aber ist die beobachtende «Dritte Person»?  – ©Kōji Taki, courtesy of The Kazuo Shinohara Estate at Tokyo Tech
Schnitt Tanikawa House – ©The Kazuo Shinohara Estate at Tokyo Tech
Grundriss Tanikawa House – ©The Kazuo Shinohara Estate at Tokyo Tech
Grundriss Tanikawa House – ©The Kazuo Shinohara Estate at Tokyo Tech
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Theatralisches Setting im Sommerraum von Tanikawa House: Wer aber ist die beobachtende «Dritte Person»? – ©Kōji Taki, courtesy of The Kazuo Shinohara Estate at Tokyo Tech

2 Ebd, S. 68.

3 Vgl. Kerez 2015, S. 24.

4 Vgl. Tanaka 2001.

5 Vgl. Burger 1913, S. 95-96; auch wenn Shinohara Burgers Aufsatz wohl nicht kannte, gehörte ein solcher Vergleich aufgrund der damaligen Verbindungen zwischen Japan und Deutschland zum impliziten Wissensbestand.

Atelier Cézanne

Die «Kirche für einen Pantheisten» ist ein seltsamer Raum – ohne erkennbaren Zweck und vor allem wenig brauchbar im herkömmlichen Sinn. Ihr Boden ist gestampfte Erde und abschüssig – zu wenig schräg und zu feucht, um als Sitzgelegenheit etwa für Lesungen zu dienen. Der Erdboden scheint allein eingerichtet, um das abschüssige Gelände ins Haus zu holen und um wie der umgebende Wald in einer ziellosen Bewegung durchwandert zu werden. Neben zwei dünnen Stützen mit Windrispen beherrschen ihn eine Bank, die Skulptur eines Hahns, ein Becken für Wasserentnahme und die erwähnte, skulptural wirkende Leiter.

Der sakral angelegte Sommerraum scheint kaum je gebraucht worden zu sein, nicht zuletzt auch, weil der einstige Besitzer das Haus nur wenig nutzte; doch für den Architekten entfesselte er eine Kette von Begriffen und Metaphern, die er 1975 in einem Essay in The Japan Architect zu einer eigentlichen Raumtheorie verdichtete. Neben dem recht gut verständlichen Begriff der «Transversalität» führte Shinohara sehr apodiktisch denjenigen der «Dritten Person Einzahl» ein:

«The act of traversing expresses a basic function in relation to the combination of site-level differential and the geometric space of the main room. […] as one traverses this space, one’s vision alters from perspective to reverse perspective and back to perspective again. The alterations in the condition occur in the first person. But I am interested in what happens to change the condition of the space when someone traverses it. This takes place in the third person. Alteration in the first person can easily be included in a general background of phenomenalism; in other words, such alteration can be regarded as a special authority for the recognition of the first person. The changes that take place in the third person, however, are not ordinary. The survey of physical space is made by the third person.» 2

Während in diesem eher kryptisch geschriebenen Abschnitt immerhin klar wird, was mit der «Ersten Person Einzahl» gemeint ist, bleibt die «Dritte Person Einzahl» kaum fassbar. Die Aussage lässt sich zwar mit einem theatralischen Setting von beobachtender und beobachteter Person vergleichen, doch dieses Spiel mit der Analogie bleibt reichlich abstrakt: Denn es ist überhaupt nicht klar, wer oder was diese beobachtende Dritte Person sein soll.

Folgt man dem Hinweis, dass die Erste Person mit einem phänomenalen, also leiblich bestimmten Blick durch den Raum hindurchschweift, so liesse sich sehr abstrakt und umgekehrt schliessen, dass die Dritte Person aus einer objektivierten, cartesischen Perspektive auf den Raum schaut. Das ist allerdings kein Schluss, der das Verständnis erleichtert.

Shinohara äusserte sich nach dem zitierten Aufsatz nie mehr zu den hier implizierten theatralischen Raumbeziehungen, doch es gibt genug Gründe, um anzunehmen, dass sie sein Werk schon vor Tanikawa House grundierten und danach mit jedem Entwurf immer wichtiger wurden. Und sich gegen Ende seiner Schaffenszeit sogar zum bestimmenden Motiv entwickelten. Für ein Verständnis dieser Entwicklung folge man wie im Titel aufgefordert: der Leiter im Summer Space.

Paul Cézannes gekippte Landschaft

Sie ist dieselbe wie im Atelier von Paul Cézanne (1839–1906) in Aix-en-Provence, eine Nachbildung, angepasst für den Stand auf schrägem Boden im Tanikawa House. Der Nachbau muss sehr bewusst erfolgt sein, dies wird indirekt bestätigt durch eine Aussage des Bauherrn.3 Doch was es mit der Leiter wirklich auf sich hat, sagen weder er noch Shinohara.

Immerhin scheinen Leitern im Werk des Architekten eine Rolle gespielt zu haben, sie sind ein wiederkehrendes Motiv. Eine erste Leiter taucht auf im Umbrella House (1961), sie führt von der offenen Essküche auf eine Art Flohboden über dem mit Tatami gedeckten Schlafbereich. Dasselbe Motiv findet sich in House of Earth (1966) und in South House in Hanayama (1968). Keine wirkliche Leiter, aber eine steile Leitertreppe findet sich im Prism House (1974), um dann gleich vom viel prominenteren Auftritt der besagten Leiter in Tanikawa House überstrahlt zu werden. Eine weitere Leitertreppe findet sich alsdann in House in Uehara (1976), diese ist auch die letzte gebaute Variante dieses Themas. Eine richtige Leiter plante Shinohara erst wieder im nicht realisierten Projekt für House in Tateshima (2006), das er bis zu seinem Tod für sich selbst und seine Familie verfolgte.

Im Fall von Tanikawa House führt eine erste, naheliegende Vermutung zu einer vorläufigen Erkenntnis: Die Leiter würde sich bei Shinohara wie bei Cézanne dazu eignen, eine «Landschaft» von oben zu betrachten, eine solche würde durch diesen Blick sozusagen objektiviert. Tatsächlich wirken manche von Cézannes gemalten Landschaften wie von einem erhöhten Standpunkt aus betrachtet – also zum Beispiel vom Kopf einer Leiter aus. Doch Cézanne verwendete keine Leitern plein air; das Objekt in seinem Atelier war eine Arbeitshilfe für das Malen grossformatiger Bilder. Aber der Landschaftsbezug ist auf eine andere Art evident. Der in Aix-en-Provence geborene Künstler bevorzugte für seine Landschaftsbilder tatsächlich erhöhte Standorte.

The View from Everywhere

Cézanne stellte seine Landschaften so dar, wie er sie unmittelbar sah: Die Objekte in der Ferne erschienen ihm im Verhältnis zu Vorder- und Mittelgrund grösser, was in vielen Bildern ab etwa 1880 zu einer Art gekrümmtem Bildraum und zu einem Kippeffekt führte. Eine weitere, für die hier folgende Argumentation plausible Erklärung liegt in der Faszination Cézannes für japanische Kunst, insbesondere für japanische Holzschnitte von Katsushika Hokusai (1760–1849) und Utagawa Hiroshige (1797–1858).4 Kompositorische Ähnlichkeiten wurden bereits 1913 durch den deutschen Kunsthistoriker Fritz Burger (1877–1916) festgestellt, der etwa die besondere und oft eingesetzte Vogelperspektive in den provenzalischen Landschaftsbildern von Cézanne mit dem räumlichen Ausdruck bei Hokusais 36 Ansichten des Bergs Fuji in Verbindung brachte.5 So gleichen sich etwa Cézannes Mont Sainte-Victoire von 1890 und Hokusais Katakura in der Provinz Suruga (1829–1831) sehr stark, abgesehen vom Personal und einer spiegelverkehrt gesetzten Pinie im Bildaufbau.

Paul Cézanne, Mont Sainte-Victoire, ca. 1890, Musée d’Orsay, Paris  – © public domain
Katsushika Hokusai, Fuji gesehen von der Teeplantage Katakura in der Provinz Suruga, 1829–1931, aus der Serie 36 Ansichten des Berges Fuji – © public domain
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Paul Cézanne, Mont Sainte-Victoire, ca. 1890, Musée d’Orsay, Paris – © public domain

6 Vgl. Okuyama 2015.

7 Merleau-Ponty 1948 / Nagato 1970.

8 Vgl. Kerez 2015; die Idee der Leiter wurde von Tanikawa mit-erdacht. Es deutet darauf hin, dass manchen räumlichen Fakten in Shinoharas Entwürfen eine geteilte Autorschaft zu Grunde liegt.

9 Vgl. Merleau-Ponty 1948 / Nagato 1970.

10 Vgl. Smith 2013, S. 102-113.

11 sinngemäss: «weggeblasenes Dach»

12 wörtlich: «Zentrum von Kyōto und Vororte von Kyōto»

13 Shinohara untersucht die Methoden traditioneller japanischer Architektur in zahlreichen Aufsätzen; eine vollständige Liste dieser Publikationen findet sich in: Menges 1994, S. 141-142.

Quartier Four

Über Hokusai verdichten sich die Indizien einer bewussten Bezugnahme Shinoharas auf Cézanne. Ein möglicher Mittler war der Künstler Gyōji Nomiyama (1920–2023), für den Shinohara zwei Häuser baute (Sea Stairway, 1971 in Tokio Nerima, und House in Itoshima, 1976). Nomiyama lebte von 1952 bis 1964 in Frankreich und setzte sich dort mit Ölmalerei, insbesondere von Cézanne auseinander. Dem Bau des ersten Hauses ging ein langer Prozess des Kennenlernens voraus – und damit wohl auch Gespräche über Kunst. Ein weiterer Mittler zwischen Frankreich und Japan war Kōji Taki (1928–2011), ein Kulturphilosoph und Hobbyfotograf, der ein ausgesprochenes Faible für die französische Kultur hatte. Shinohara hatte Taki anlässlich dessen Kritik einer Ausstellung seiner eigenen Arbeiten kennengelernt, und aus diesem Zusammentreffen erwuchs eine eingeschworene und äusserst fruchtbare Freundschaft. 6

Es ist zu vermuten, dass Taki Shinohara eine wichtige Referenz vermittelte: 1970 erschien erstmals der 1945 geschriebene Aufsatz von Maurice Merleau-Ponty (1908–1961), Le doute de Cézanne, auf japanisch übersetzt.7 Der französische Philosoph bringt darin das Werk des Künstlers Cézanne direkt mit dem Konzept der Phänomenologie in Verbindung. Merleau-Ponty spricht von der Simultaneität «erlebter» und «objektiver» Perspektiven bei Cézanne, was sehr plausibel bei Shinohara als Gegensatz zwischen phänomenalem und geometrischem oder «physischem» Raum widerhallt.

Es ist anzunehmen, dass Taki Merleau-Pontys einflussreichen Text kannte und damit für Shinohara die gedankliche Verbindung von schrägem Erdboden, Phänomenologie und Cézanne herstellte. Es könnte durchaus sein, dass überhaupt die Leiter eine Idee von Taki war – dies auch obwohl oder gerade weil bekannt ist, dass die Idee zusammen mit dem Auftraggeber für Tanikawa House entwickelt und umgesetzt worden war.8

Wie auch immer: Das Werk von Cézanne musste für Shinoharas Interesse am architektonischen Raum eine grosse Wichtigkeit haben. Denn der Architekt, der in der Präsentation seiner Werke nichts dem Zufall überliess, legte mit der Leiter jenseits seiner sehr idiosynkratischen Texte eine untypische wie wertvolle Spur zum eigenen Denken.

 

Divergierende Fluchtpunkte

Die provenzalisch-japanischen Implikationen gehen aber noch weiter. Sie hängen mit der Art und Weise zusammen, wie Cézanne Landschaften und Stillleben malte. Beide sind ab circa 1880 durch divergierende Fluchtpunkte charakterisiert, was gerade den Philosophen Maurice Merleau-Ponty im erwähnten, 1945 geschriebenen Aufsatz zu der Folgerung führte, dass in Cézannes Bildern sowohl die Dinge selbst dargestellt seien wie auch der Prozess ihrer Wahrnehmung. Merleau-Ponty spricht von «objektiven» und «primordialen» Dimensionen. Cézanne würde demnach diesen Unterschied in seinen Bildern aufheben.9 

Tatsächlich erzeugen viele von Cézannes Landschaften, Dorfbildern oder Stillleben ein starkes Gefühl sowohl «für die Dinge selbst» wie auch für das dargestellte Ganze. Der Kunsthistoriker Paul Smith spricht in einem bemerkenswerten Essay von einer «Sicht von überall».

Die gleichzeitige Verbindung von dargestelltem Objekt und Gesamtzusammenhang ruht primär in der phänomenal-sinnlichen Fusion von Betrachtenden und Betrachtetem – Cézanne hat eine eigentliche Technik entwickelt, um sie herbeizuführen. Mit Merleau-Ponty und Smith auf den Punkt gebracht: In den Bildern von Cézanne «greifen wir nach dem Dargestellten ebenso, wie wir es sehen» oder es in einer grösseren Szenerie über das «Gehen» überblicken. Eine solche erzwungene, virtuelle Umherbewegung im Bild offenbare die Bedeutung der Objekte viel besser als ein statischer, zentrierter Blickpunkt. Damit führte Cézanne eine erlebbare Zeit in das statische Bild ein.

Die für Cézanne typische, «gelebte Perspektive» spannt gemäss Smith einen relationalen Bildraum auf, in dem alle Objekte miteinander in Beziehung treten, zu Protagonisten werden. Respektive: Durch den Wahrnehmungsprozess treten wir selbst an deren Stelle, werden zu Handelnden und lösen damit jede Form von übergeordneter Perspektive auf. Die Objekte «formen ein eng gestricktes ‹System› von Beziehungen (oder eine ‹Welt›), eine organisierte Struktur, die es uns erlaubt, von uns in ihrer Gesamtheit visuell erfasst zu werden».

Cézanne hat sich intensiv mit Perspektive und Projektionsverfahren beschäftigt, wie Aufzeichnungen zu perspektivischen Lehrbüchern und die Bewunderung für den mittelalterlichen Künstler Villard de Honnecourt (ca. 1200–1250) zeigen. Und visuelle Projektion ist auch dasjenige Medium, das in diesem Aufsatz neben dem Zeichen der Leiter die Ähnlichkeiten zwischen Cézanne und Shinohara vermittelt. Cézannes Inspirationsquellen aus Japan – die Holzschnitte von Hokusai und Hiroshige – erzeugen mit ihren parallel- oder schrägperspektivischen Darstellungen jenen «objektivierenden» Effekt, der einen passenden Schlüssel für das inhaltliche Verständnis der Ähnlichkeiten bietet. Smith bringt es auf den Punkt: «Parallelprojektionen können starke dreidimensionale Formen und simultan allozentrische [also objektivierende] räumliche Beziehungen produzieren, die für verschiedene Blickpunkte charakteristisch sind.»10

 

Rakuchū rakugai

Eine gekippte Landschaft, ein objektivierter Blick: Die Darstellung des Raums kennt in der japanischen höfischen Kunst vor dem Holzdruck des 19. Jahrhunderts mindestens zwei Formen, die solche Wahrnehmungen auslösen: Fukinuki yatai 11  – axonometrische Darstellungen von Personen und Gebäuden «ohne Dach» auf Emaki-Bildrollen sowie Rakuchū rakugai 12 – «Szenen in und um die Hauptstadt» auf Wandschirmen. Beide Darstellungsformen erleben ihre Hochblüte im 12., respektive im 16. und 17. Jahrhundert.

Shinohara hatte sich ab 1960 intensiv mit den gestalterischen Grundlagen oder Methoden der traditionellen japanischen Architektur auseinandergesetzt,13 und es ist anzunehmen, dass er die erwähnten Darstellungsformen kannte und intensiv studiert hatte – und sie in der Kunst von Cézanne wiederfand. Besonders die Betrachtung von Rakuchū rakugai erweckt die Illusion einer Landschaft auf schräger Ebene: Steht man vor einem solchen Wandschirm, so kippt der Blick unmittelbar in die Tiefe des virtuell dargestellten Raums; er folgt der streng linksunten-rechtsoben (oder umgekehrt) ausgerichteten Projektion von Einzelszenen, bewegt sich zwischen hinten und vorne hin- und herspringend durch den Bildraum. Nicht zuletzt wird der Blick durch Wolken- oder Nebelschwaden tiefenräumlich stimuliert, die das gleichwertig-harmonisierende Nebeneinander von menschlichen Szenen und gebauter Architektur überlagern; damit erscheinen jede Szene, jedes Objekt zugleich fokussiert und distanziert. Die Bildinhalte wirken wie auf einem Cézanne’schen Tisch präsentiert – ohne eigentliche Perspektive. Jedes Objekt, jede Szene steht für sich allein und ist zugleich eingebettet in ein übergeordnetes, logisches Ganzes. In diesem Feld aktivieren sich die gleichwertigen Szenen gegenseitig.

Szenen in und um die Hauptstadt auf dem linken von zwei sich gegenüberstehenden Wandschirmen mit der Burg Nijō und der westlichen Stadthälfte von Kyōto, 17. Jahrhundert, Museum of Modern Art New York, Mary Griggs Burke Collection – © public domain
Szenen in und um die Hauptstadt auf dem rechten von zwei sich gegenüberstehenden Wandschirmen mit dem Gion-Festival in der östlichen Stadthälfte von Kyōto, 17. Jahrhundert, Museum of Modern Art New York, Mary Griggs Burke Collection – © public domain
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Szenen in und um die Hauptstadt auf dem linken von zwei sich gegenüberstehenden Wandschirmen mit der Burg Nijō und der westlichen Stadthälfte von Kyōto, 17. Jahrhundert, Museum of Modern Art New York, Mary Griggs Burke Collection – © public domain

14 Cesaro 2018, S. 87. (Übersetzung nicht vom Shinohara-Archiv, Tokyo Tech autorisiert)

15 Kenchiku bunka, Nr. 206 («Japanischer Stadtraum»), Dezember 1963.

16 Ebd, S. 142.

17 Ebd.

18 Vgl. Massip-Bosch 2015.

19 Kenchiku bunka, Nr. 206, S. 142.

20 Deleuze 1964.

21 Vgl. Dufour/Witkovsky 2016.

Rakuchū rakugai zeigt alles, was die Hauptstadt Kyōto zu bieten hatte. Durch die axonometrische Darstellung erscheint jede Szene, jedes Architekturelement mit Eigenvalue belebt – um ein Wort von Shinohara zu verwenden. Der Wandschirm zeigt The View from Everywhere: Die Darstellung selbst ist Dritte Person, also gewissermassen unbeteiligt, distanziert, eben objektiv und enzyklopädisch; das Erleben des Bildes ist aber über die dargestellten Handlungen und den Tiefeneffekt Erste Person, phänomenal, unmittelbar, aktiviert.

Die Wahrnehmung des traditionellen japanischen Raums charakterisierte Shinohara bereits zehn Jahre vor Tanikawa House, in bemerkenswerter Analogie zu Merleau-Ponty, als eine Hin- und Herbewegung zwischen Erster, Zweiter (?) und Dritter Person. Der Hintergrund ist eine Auseinandersetzung mit dem architektonischen Raum im Vergleich zwischen West und Ost:

«Space of contemporary architecture is like [Frank Lloyd] Wright’s space, that is, a space recorded by the movement of the human eye, comparable to the world narrated by the protagonist who speaks in first person, the «I» of literature. Since Renaissance, space is constituted by the presence of the «I», so it is natural for us to think that the point of view is the human one. But, in the architecture of the previous eras what points of view existed? Was there not a different mechanism of the point of view? Looking at the particular composition of traditional Japanese architecture, such as that of Jiko-in [the Buddhist temple in Nara], it shows us a completely different mechanism of the point of view. The point of view there does not belong to man but to architecture itself, as if in literature the world was described by the third person, that is, a universal person who embodies history. Reflecting on these different mechanisms of the point of view I began to think that by freely changing the first, second and third person we can find a new way of recording space. Or, perhaps, that introducing the point of view of a fourth person, who has nothing to do with the previous three, we could describe a «space without point of view».14

Den Text schrieb Shinohara 1964, ziemlich genau 300 Jahre nach der Errichtung des erwähnten Tempels (1663). In der Zeit zwischen Muromachi- (1338–1573) und Edo-Periode (1603–1868) kann in Japan von einer homogenen, höfisch-urban geprägten Kultur der Eliten ausgegangen werden, bei der Malerei und Architektur unter denselben Bedingungen entstanden. Allein damit impliziert Shinoharas beschriebene Dritte Person auch den urbanen Blick von Rakuchū rakugai. Oder besser: einen abgeschlossenen Kosmos, der in der Malerei wie in der Architektur keine Unterscheidung zwischen Stadt und Haus macht. Auch wenn Shinohara in den bis heute übersetzten Texten keine direkten Aussagen zu Rakuchū rakugai macht, so erscheint diese traditionelle Darstellungsform aufgrund der explizit gemachten Bezüge zu Cézanne wie eine Art unsichtbares oder verschwiegenes Medium, welches das Denken und Schreiben des Architekten begleitete. Denn die Gleichsetzung von Architektur und Literatur kann doppelt gelesen werden: nämlich sowohl als der Grundsatz, dass ein Haus Architektur (als Kunstform) sein müsse, wie auch als tiefe strukturelle Analogie zwischen Haus und Stadt. Der analoge Übergang vom Raum des einzelnen Hauses zum Stadtraum wird Thema des zweiten Teils dieses Aufsatzes sein.

Vom Haus zur Stadt zum Haus

Die Auseinandersetzung mit Techniken und Darstellungsformen der japanischen Tradition wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Shinohara und seinen Mitlebenden aktiv verfolgt – und Anfang der 1960er Jahre wurde diese Recherche von der japanischen Ästhetik im Allgemeinen und dem «japanischen Raum» im Speziellen auf die Analyse des Siedlungsraums ausgeweitet. Ein Beispiel dafür ist die im Dezember 1963 erschienene Ausgabe der Fachzeitschrift Kenchiku bunka.15 Es ist davon auszugehen, dass Shinohara die Ausgabe kannte. Rakuchū rakugai wird darin eingehend als genuin japanische Stadtdarstellungsform diskutiert und wie im obigen Zitat in ein Verhältnis zu westlichen Beispielen gesetzt.

Der kurze Aufsatz zu Rakuchū rakugai ist aufschlussreich. Er liest sich wie die Beschreibung jenes Raums, den Shinohara 1974 mit Tanikawa House realisierte und ein Jahr später theoretisch zu bestimmen suchte: Gemäss Teiji Itō und seinen Mitautoren mache die axonometrische Darstellung in Rakuchū rakugai «keinen Unterschied in der räumlichen Dichte», und dadurch liesse sich «der ganze Raum einheitlich erfassen, ohne subjektive Betonung, nur mit einer ruhigen Logik». Dabei würde der «Fokus in die Hände der Betrachtenden» gelegt. Itō und Mitautoren beschreiben eine Art topologischen Raum, ein Beziehungsnetz zwischen den dargestellten Szenen:

«Das Bild des Raums vom Mandala bis zu Rakuchū rakugai war eigentlich ein Raum relativer Beziehungen, in dem die Symbole [regelmässig] verteilt sind. Die kognitive Struktur unseres urbanen Raums ist keineswegs eine Anhäufung inhaltlicher Beschreibungen, sondern dessen Erweiterung durch eine Summe rhythmischer Eindrücke. Wenn die Summe solcher Eindrücke das reale Bild des Stadtraums ist, dann ist die Wahrnehmung einzelner Elemente auch ausreichend wirksam für den Raum, der nur durch das relative Verhältnis der diskontinuierlichen Anordnung festgelegt wird.»16

In Rakuchū rakugai wird der Eindruck von Diskontinuität wesentlich durch die zwischen den Szenen wabernden Wolken- oder Nebelschwaden verstärkt; sie unterbrechen den Wahrnehmungsprozess und vereinzeln und individualisieren die dargestellten Objekte – dieser Effekt ähnelt in gewisser Weise Cézannes multi-perspektivischem Ausspielen verschiedener Flucht- und Blickpunkte.

Diskontinuität ist ein wesentliches Thema bei Shinohara. Mit der Beschreibung von Rakuchū rakugai wird es aber noch Shinohara- und Cézanne’esker: So entstehe gemäss Itō und Mitautoren die «räumliche Emotion des Individuums» durch «die bildgebende Perspektive – durch die stetige Bewegung des Blickwinkels, die es in der europäischen Stadtdarstellung nicht gibt».17 Neben dem transkulturellen Blick ist das Hervorrufen von Emotion durch Architektur seit Beginn der 1960er Jahre gerade bei Shinohara ein wichtiges Thema.18 Als wäre dies nicht genug, so deutet der Text im Heft und Buch jene Form urbanen Erlebens an, die Shinohara mit dem Begriff der «Transversalität» konzeptualisiert und die für sein späteres Schaffen zentral wird: Der in Rakuchū rakugai dargestellte städtische Raum Japans biete gemäss Itō und Mitautoren:

«jenes typische Bild, das [eine] Anordnung von Punkten nachzeichnet […]. Die menschliche Raumerfahrung erzeugt durch das Nachzeichnen dieser Punkte eine lineare Erinnerungslinie. […] Der Raum entsteht erst, wenn der Mensch ihn betritt und erlebt.»19

Transversale Bewegung durch Stadt und Haus

Den Begriff «Transversalität» borgte sich Shinohara bei Gilles Deleuze (1925–1995), dessen Essay Proust und die Zeichen er durch den schon erwähnten Kōji Taki kennengelernt hatte.20 Eine lange Geschichte kurz erzählt: Taki war Mitbegründer der experimentellen Fotozeitschrift Provoke, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kritisch und einer neuen Ästhetik verpflichtet das japanische Leben zwischen studentischem Aufbegehren, verzweifelter Lust, militärischer und wirtschaftlicher Ausbeutung und experimenteller Kunst dokumentierte.21 Die in Provoke festgehaltenen fotografischen Streifzüge sind nicht nur eine Dokumentation urbaner Widersprüche, sondern sie spiegeln auch eine dramatische Sicht auf die zeitgenössische Stadt aus der Perspektive der Ersten Person, die bis anhin in Japan keine Vorbilder hatte. Aus ihrer Summe entstand ein transversales Erste-Dritte-Person-Panorama.

Shinohara verwendete das Prinzip der Transversalität für den Weg einer langsam schreitenden Person durch den Sommerraum von Tanikawa House. Eine solche würde im Erleben die verschiedenen räumlichen Elemente verbinden: den schrägen Erdboden, die Fenster, den Wald, die Stützen, das Dach. Mit der Bewegung durch den Raum werden auch Leiter, Sitzbank und Hahn ähnlich wie architektonische Objekte auf dem Weg durch eine Stadtlandschaft zu einem Gefühl von Totalität synthetisiert.

Blick von oben auf eine gekippte «Stadtlandschaft»: Aus der Schreibstube des Dichters erscheinen der Sommerraum von Tanikawa House und die mögliche transversale Bewegung einer menschlichen Figur panoramisch wie auf einen Wandschirm gemalt. Das Foto wurde mutmasslich durch Shinohara selbst aufgenommen. – ©The Kazuo Shinohara Estate at Tokyo Tech.
Blick von oben auf eine gekippte «Stadtlandschaft»: Aus der Schreibstube des Dichters erscheinen der Sommerraum von Tanikawa House und die mögliche transversale Bewegung einer menschlichen Figur panoramisch wie auf einen Wandschirm gemalt. Das Foto wurde mutmasslich durch Shinohara selbst aufgenommen. – ©The Kazuo Shinohara Estate at Tokyo Tech.

Transversalität ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Erklärung für die räumliche Wahrnehmung zwischen fragmentierten Objekten in Stadt und Haus. Im Falle von Shinohara gibt erst das Zeichen der Leiter Auskunft über die Art und Weise, wie dieser transversale Raum beschaffen ist: er entsteht, durchaus im Sinne von Merleau-Ponty, aus der Vermischung einer virtuellen und tatsächlichen Hin- und Herbewegung eines Objekts zwischen anderen Objekten, zwischen «primordialen» und «objektiven» Wahrnehmungszuständen. Die Leiter auf der geneigten Fläche im Sommerraum von Tanikawa House ist dasjenige Medium, das Shinoharas Entwurfsabsichten mit dem «primitiven» und zugleich objektivierenden Blick von Cézanne verbindet.

Es fällt nicht schwer, im Zeichen der Leiter noch mehr zu erkennen: nämlich ein Symbol für das kompliziert-widersprüchliche Verhältnis der japanischen Architektur zur Stadt, zwischen autonomem Objekt und anonymer Konstruktion, die beide gleichermassen im grösseren Ganzen aufgehen. Denn Shinoharas ästhetisch-philosophische Andeutungen zum japanischen Raum sind typisch für ihre Zeit. Sie sind nicht zuletzt Ausdruck einer Suche nach Identität in der Folge der Katastrophe des zweiten Weltkriegs und der darauffolgenden Veränderung der Lebenswelt durch Wachstum und Kommerzialisierung. Sie prägen eine ganze Generation von Architekturschaffenden – eine Generation wohlgemerkt, die das heutige Bild der japanischen Architektur im Westen bestimmt hat.  

 ...to be continued.

 

Bibliografie:

  • Burger, Fritz Cézanne und Hodler: Einführung in die Probleme der Malerei der Gegenwart, München 1913, S. 95–96. 
  • Cesaro, Giorgia «Modernity From the Past: Kazuo Shinohara’s Fourth Space», in: Regionalism, Nationalism & Modern Architecture Conference Proceedings, Porto 2018, S. 87; Englischer Auszug aus: Cesaro, Giorgia, l’Eco dello spazio. Forme, metodi e logica nell’architettura giapponese, Milano 2021 (eine durch das Shinohara-Archiv am Tokyo Tech nicht autorisierte Italienisch-Übersetzung von Shinoharas Buch Jūtaku kenchiku, Tokio 1964.) 
  • Dufour, Diane / Witkovsky, Matthew S. Provoke: Between Protest and Performance – Photography in Japan 1960/1975, Göttingen 2016. 
  • Gilles Deleuze, Gilles Proust und die Zeichen, Berlin 1993; Original: Marcel Proust et les signes, Paris 1964. 
  • Kerez, Christian «‹Ich hatte eine Skulptur erworben›. Der Bauherr der Tanikawa Residence im Gespräch mit Christian Kerez», in: Werk, Bauen + Wohnen 12–2015, S. 24. 
  • Massip-Bosch, Enric Five Forms of Emotion. Kazuo Shinohara and the House as Work of Art, Doktorarbeit an der Universitat Politècnica de Catalunya, Barcelona 2015. 
  • Maurice Merleau-Ponty, Maurice «Le doute de Cézanne», in: Sens et non-sens, Paris 1948; japanische Übersetzung durch Nagato, Tokio Imi to muimi, Tokio 1970. 
  • Menges, Axel (Hg.), Kazuo Shinohara, Berlin 1994, S. 141–142. 
  • Okuyama, Shin-Ichi «Kongenialer Blick: Kazuo Shinohara und der Philosoph Kōji Taki», in: Werk, Bauen + Wohnen, S. 28–31.  
  • Shinohara, Kazuo «When Naked Space is Traversed», in: JA The Japan Architect, Februar 1976, S. 64–69, Original: Kazuo Shinohara, «Ragyō no kūkan no ōdan suru toki», in: Shinkenchiku, Tokyo, Oktober 1975, S. 158–163. 
  • Smith, Paul «Cézanne’s ‹Primitive› Perspektive or the ‹View from Everywhere›», in: The Art Bulletin, 1–2013 (März), S. 102–119. 
  • Tanaka, Hidemichi «Cézanne and ‹Japonisme›», in: Artibus et Historiae, 2001, Band 22, Jg. 44, S. 201–220.
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