Fragmente in Resonanz

Eine methodologische Reise mit Aldo Rossi

1989 luden drei Architekten Aldo Rossi nach Barcelona ein, um mit ihm ein Projekt für die Markthalle in Sants zu entwickeln. Rossis Erinnerungen und Assoziationen prägten das Projekt. In ihrem Essay zeichnet Krisztina Takacs Rossis Methodik nach und erinnert einmal mehr daran, dass der Entwurf als die Domäne der Architektur den reinen Funktionalismus weit übersteigt.

1 Alex Mullor and Francesc López, interviewt von Krisztin Takacs. 2024.(09.09.24).

2 Ebd.

3 García Estévez, Carolina Beatriz, «Tan cerca, tan Lejos: Aldo Rossi y el grupo 2C. Arquitectura, Ideologia y disencias en la Barcelona de los 70, in: arquitecturas en común 18, S. 104-117, hier S. 113.

4 Mullor López, 2024.

Es war ein Sommernachmittag im Jahr 1989, als Aldo Rossi in Barcelona ankam, um die historische Markthalle in Sants zu besichtigen. Er bewegte sich langsam, sein Blick wanderte mit stiller Konzentration umher, als versuche er, sich an eine längst vergessene Erfahrung zu erinnern – an einen Ort, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Sein Blick drang in alle Oberflächen ein und liess das Licht, die Architektur selbst, ihre Formen, ihre verborgenen Schichten und den Nachhall vergangener Leben zum Vorschein bringen. Orte waren für Rossi nie völlig neu. Jedes Gebäude, jede Strasse trug Spuren anderer Plätze – einige kannte er bereits, andere hatte er sich nur vorgestellt. Waren es die Proportionen der Decke? Das durch die Oberlichter rhythmisch einfallende Licht? Oder vielleicht die räumliche Anordnung der Stände, die an Kirchenbänke erinnerten?

Nur selten suchte er nach Übereinstimmungen. Vielmehr achtete er auf die Resonanzen zwischen Orten, die geografisch weit voneinander entfernt, aber durch ihre Stimmungen verbunden waren. Beim Schlendern durch die Halle blieb er immer wieder stehen und nahm Einzelheiten wahr: die Verkäufer, die ihre Waren ausstellten, die abgenutzten Fliesen und die Geräusche des Handels.1 Er beobachtete einen Fischer bei der Arbeit, der mit geübter Leichtigkeit seinen frischen Fang sortierte – in einer Bewegung, die von Gewohnheit und Notwendigkeit geprägt war. Ein Detail fiel ihm besonders auf: ein Paar Handschuhe, die über dem Fischstand hingen. So alltäglich es auch war, es hatte für ihn etwas Poetisches – als stille Verkörperung von Präsenz, Abwesenheit und als Geste. Die Fischerstände versammelten sich im Herzen der Markthalle, dort, wo Leben und Architektur untrennbar verwoben waren.2

Die Einladung

Anfang 1989 luden die katalanischen Architekten Yago Bonet Correa, Francesc López und Alex Mullor Aldo Rossi nach Barcelona ein, sich an der Umgestaltung der Markthalle von Sants zu beteiligen – einem Projekt, das von der damaligen Konzessionsbehörde der Halle initiiert worden war. Das Projekt beruhte auf einer Direktvergabe, wie sie zu jener Zeit in Sants üblich war: Architekturaufträge wurden häufig an ortsansässige Architektinnen und Architekten vergeben, die enge Verbindungen zum Quartier hatten. In diesem Fall war zunächst Alex Mullor beauftragt worden – er stammte aus Sants und war bereits eine bekannte Figur in der lokalen Architekturszene. Vertrauen und gegenseitiges Verständnis spielten dabei eine zentrale Rolle. Mullor holte Francesc López und Yago Bonet ins Team. Letzterer kannte wiederum lud Aldo Rossi ein teilzunehmen – beide kannten sich aufgrund einer langjährigen akademischen und persönlichen Freundschaft.

Bonet, der die Leitung des Projektes übernahm, war Professor und eine prägende Stimme im spanischen Architekturdiskurs. Seine Zusammenarbeit mit Rossi hatte bereits eine längere Geschichte: In den 1970er und 1980er Jahren war Bonet als Professor und Koordinator mehrerer internationaler Seminare zur zeitgenössischen Architektur (SIAC) eng mit Rossi verbunden. Diese Veranstaltungen wurden von regionalen Architekturverbänden in Santiago de Compostela (1976), Sevilla (1978) und Barcelona (1980) organisiert.3 Die SIAC-Seminare widmeten sich vor allem der Revitalisierung historischer Stadtteile, die durch industrielle Entwicklungen unter Druck geraten waren – etwa Belvís in Santiago, La Cartuja in Sevilla oder das Poblenou-Viertel von Barcelona. Ihr Ziel war es, das kollektive Gedächtnis dieser Orte mit zeitgenössischen architektonischen Interventionen in Einklang zu bringen.

Die Einladung von 1989 setzte diesen Dialog fort – sie zielte darauf ab, Rossis theoretische Tiefe und poetische Sensibilität in einen konkreten Entwurf zu übersetzen. Bonet und seine Kollegen suchten nach einer architektonischen Geste, die die komplexe Geschichte des Ortes respektiert. Gemeinsam mit López und Mullor entwickelte Bonet einen Entwurf, der die Erinnerung an den Ort bewahrt und zugleich neue architektonische Perspektiven eröffnet. Die Händler, mit denen Rossi und die Architekten im engen Austausch waren, spielten in diesem Prozess eine zentrale Rolle. Indem sie persönliche und biografische Geschichten über den Markt erzählten, beeinflussten sie Rossis Verständnis des Ortes – und letztlich auch seine Entwurfsstrategie in entscheidender Weise.4

5 Ebd.

6 Aldo Rossi, Wissenschaftliche Selstbiographie, Zürich 2015, S. 137.

7 Diane Ghirardo, "The Analogous City", in: Aldo Rossi and the Spirit of Architecture. New Haven/London, 2019.

8 Mullor Lopez.

Bei seinem Besuch in Barcelona erkundete Rossi die Markthalle und sprach mit den drei Architekten. Diese Gespräche verliefen langsam und sie handelten selten direkt von dem Gebäude selbst. Vielmehr sprach Rossi von der Stadt als einer lebendigen Struktur aus Raum und Erinnerung. Er verweilte an Türen, blieb an Plätzen und Strassenecken stehen, wo andere achtlos vorbeigingen. Er wirkte gleichzeitig gegenwärtig und entrückt – als hielte jedes Fragment der Stadt einen verborgenen Schlüssel bereit. Die Gespräche kreisten um Analogien, strukturelle Beziehungen, symbolische Konstellationen. Rossi verkörperte eine Haltung, in der architektonisches Entwerfen zur Form von Erinnerungsarbeit wird: durch das Überlagern von Bildern, Referenzen und Raumtypen entsteht eine Architektur, die über Funktionalität hinausgeht und selbstbiografische Züge annimmt.

Orte und Dinge verändern sich, wenn sich neue Bedeutungen über sie legen. Diese Idee – ein Entwerfen, das aus Erinnerung und Reflexion hervorgeht – stand im Zentrum der Diskussionen über die Markthalle. Sie bot eine Möglichkeit, das Projekt in die umfassendere räumliche Erzählung des Viertels Sants einzubetten – mit seinen Strassen, Plätzen und der noch sichtbaren industriellen Prägung.5

Rossi hatte diesen Denkansatz bereits in den 1970er Jahren entwickelt, als die Moderne noch als einzig gangbarer Weg galt. In seiner Wissenschaftlichen Selbstbiografie schreibt er:
«Es ist klar, dass jedes Ding seine Funktion hat, der es gehorchen muss; doch die Dinge hören nicht dort auf, denn die Funktion verändert sich mit der Zeit.»6

Statt sich einer funktionalistischen Doktrin zu unterwerfen, antwortete er mit einem nuancierten, vielschichtigen Entwurf, der das kollektive Gedächtnis in sich aufnahm. Für Rossi war Architektur ein Feld der Kontinuität und Transformation – eine Disziplin, die Rationalität und Poesie miteinander verbindet, in der die Stadt als Ort des Kollektiven, der Fantasie und des Handelns entsteht.7 Als das Projekt in Sants initiiert wurde, befand sich Barcelona in einer Phase tiefgreifender Veränderungen. Seit 1986 bereitete sich die Stadt auf die Olympischen Spiele 1992 vor. Auch wenn der Umbau der Markthalle nicht Teil dieses Programms war, lässt sich eine gewisse zeitliche und atmosphärische Nähe erkennen.

Damals war Barcelona noch vor allem eine Industriestadt – kein touristisches Ziel. Mit dem Olympischen Dorf öffnete sich die Stadt zunehmend einem internationalen Publikum. Der Wandel wurde unter anderem von Oriol Bohigas angestossen, der die Transformation der Industrieküste zu einem öffentlichen Raum am Meer leitete. Renommierte Architekten wie Santiago Calatrava (Montjuïc Communications Tower, 1992) oder Arata Isozaki (Palau Sant Jordi, 1990) – prägten diese neue Phase ebenso wie Richard Meiers MACBA, das 1995 fertiggestellt wurde.

Angesichts dieser Umstände ist es kaum verwunderlich, dass Aldo Rossi, einer der bedeutendsten Architekturdenker des 20. Jahrhunderts Interesse daran hatte, an einem Ort zu arbeiten, der so eng mit der Geschichte der Arbeiterklasse in Barcelona verbunden war. Im Gegensatz zu den grossflächigen Infrastrukturprojekten des Olympiaprogramms stellte der Sants-Markt eine andere Art architektonischer Aufgabe dar – kleiner im Massstab, jedoch nicht minder bedeutungsvoll. Als Rossi die Halle zum ersten Mal betrat, spürte er bereits, dass dieses Projekt eine Herausforderung sein würde, gerade weil er das Bestehende so bemerkenswert fand.8

 

Die Markthalle als Theater

Die Markthalle von Sants wurde 1892 vom Architekten Pere Falqués i Urpí entworfen und 1913 eröffnet. Sie entstand im Herzen eines ehemaligen Industriequartiers. Zwar wurde Sants bereits 1897 in die Stadt Barcelona eingemeindet, doch bewahrte es seine Identität als Arbeiterviertel – geprägt vor allem durch die Textilfabrik Vapor Vell. Heute dient die ehemalige Fabrik als öffentliche Bibliothek, doch ihr hoch aufragender Schornstein ist stehen geblieben - ein markantes Zeugnis der einst blühenden Textilindustrie Barcelonas.

9 Victor Garcés Braut, Mireia Vázquez Abella, El mercat de Sants: història i arquitectura. Barcelona, 2007.

10 Mullor Lopez.

Der Stil der Markthalle, häufig der katalanischen Moderne zugeordnet, verbindet schmückende Elemente mit funktionaler Klarheit. Das Gebäude besteht aus drei grossen Hallenschiffen aus Sichtmauerwerk, überdacht von einer Konstruktion aus Metall und Holz. Es nimmt einen gesamten Block im Stadtteil ein und gehört seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert – als hier noch ein Freiluftmarkt stattfand – zum sozialen und wirtschaftlichen Gefüge des Viertels. Der basilikaartige Grundriss mit seinem hohen Mittelschiff und den niedrigeren Seitenschiffen erzeugt ein Gefühl von Grosszügigkeit und Offenheit. Die Fassade ist reich verziert mit Ziegelornamenten, Keramikeinlagen und farbigen Fliesenmosaiken – ein lebendiges Spiel von Struktur, Farbe und Material. Falqués, von 1889 bis 1914 Stadtarchitekt von Barcelona, ist vor allem für die gusseisernen Laternen und Bänke entlang der Passeig de Gràcia (1906) bekannt – einem Sinnbild für funktional gestalteten Stadtraum.9

Der ursprüngliche Entwurf der Halle sah eine ovale Anordnung der Marktstände vor, konzentriert zur Mitte hin. Diese klassische Marktstruktur führte zu unübersichtlichen Verkehrswegen und versperrte vielfach die Sicht durch den Raum. Rossi und das Team setzten genau dort an: sie drehten die Ellipse um 90 Grad – ein vergleichsweise kleiner Eingriff mit grosser Wirkung. Der neue Grundriss öffnete den Raum, betonte die bestehende Pfeilerstruktur und liess die Blickachsen klarer hervortreten, ohne die Charakteristik des Gebäudes zu beeinträchtigen.

Die neue Ausrichtung folgte der inneren Logik des Bauwerks und ermöglichte eine neue Lesart des Raumes: als kleine, in sich geschlossene Stadt mit eigenen Strassen und Plätzen. Mullor und López beschrieben diesen Entwurfsprozess als vergleichbar mit einer Theateraufführung oder einer Schachpartie – das Raster ist gegeben, aber jede Inszenierung verläuft anders, geleitet von Intuition und den Gegebenheiten des Augenblicks.10

Durch die Drehung rückte das Zentrum des Marktes in das Mittelschiff. Der räumliche Rhythmus wurde gestärkt, der zentrale Platz klarer gefasst, die Wegeführung verbessert. Zugleich verband sich die neue Orientierung auf natürliche Weise mit den Haupteingängen – die Ellipse lag nun entlang ihrer Achsen. Die strukturelle Neuordnung umfasste mehr als den baulichen Rahmen: Sie war Ausdruck eines Denkens, das den Markt als städtischen Ort verstand – als öffentliches Inneres, in dem Alltag, Geschichte und Architektur zusammenkommen.

Die Architekten dachten den Markt auch vertikal weiter: Eine Galerie mit Ständen sollte unter den Oberlichtern schweben und eine erhöhte, fast sakrale Perspektive eröffnen. Was zuvor gedrungen und nach innen gekehrt erschien, wurde geöffnet – auf Licht, Bewegung und räumliche Tiefe hin neu abgestimmt.Diese architektonischen Massnahmen waren keine blossen Funktionslösungen. Sie speisten sich aus einem dichten Netz an Bildern und Erinnerungen, das Rossi durch Reisen, Studien und Skizzen in sich aufgenommen hatte. Dazu zählten das weit gespannte Mittelschiff der Kathedrale von Ferrara und ihre Loggia dei Merciai – die Verkäuferstände in denen Handel und bürgerliches Leben zusammenfinden. Die Überlagerung von Struktur, Funktion und Geschichte in Ferrara lieferte Rossi eine architektonische Analogie für den Markt von Sants.

11 Rossi 2015, S. 137.

12 Mullor Lopez.

13 Rossi 2015, S. 51.

14 Ebd.

«Diese Freiheit der Form gewordenen Typologie hat mich stets fasziniert. Dazu könnte ich zahlreiche Zitate anführen, doch ich würde mich wiederholen. Gewiss haben mich ebenso die Gasthäuser unter den Bögen der Berliner Stadtbahn magisch angezogen, die zweigeschossigen, an den Dom von Ferrara angebauten Kioske und andere Dinge, bei denen sich die genaueste Handlung im unkalkulierbarsten Rahmen abspielt.»11

Auch die elliptische Anordnung der Stände in Sants erinnerte das Team an das geschlossene Oval der Piazza dell‘Anfiteatro von Lucca – einen Raum, in dem Geometrie, Erinnerung und soziales Ritual ineinandergreifen.12 Rossis architektonische Assoziationen waren nicht nostalgisch, sondern methodisch. Wie López und Mullor betonen, war Rossis Zugang ein analoger: Fragmente architektonischer Geschichte wurden nicht wörtlich übernommen, sondern übersetzt und neu zusammengesetzt. Der Markt wurde so nie als neutrale Infrastruktur begriffen, sondern als dichter, geschichtsträchtiger Innenraum – aufgeladen mit typologischen, historischen und emotionalen Resonanzen. In seiner Wissenschaftlichen Selbstbiographie kehrt Rossi mehrfach zu Erinnerungen an Barcelona zurück – und dabei stehen die Märkte im Mittelpunkt. Für ihn waren sie Orte, an denen das städtische Leben seinen sichtbarsten Ausdruck findet:

«Mich beeindruckt die Menge der ausgestellten Nahrungsmittel: Fleisch, Früchte, Fisch, Gemüse, wahre Mengen, die sich auf den verschiedenen Bänken oder Lokalen, in die der Markt sich aufteilt, wiederholen, ganz besonders jedoch der Fisch, der mit seinen verschiedenen Formen selbst in unserer Welt noch fantastisch wirkt.»13

Der Markt war für Rossi kein Denkmal, das es zu bewahren galt, sondern ein Palimpsest – ein Ort, den man lesend erschliesst, Schicht für Schicht. Die elliptische Geometrie, die abgenutzten Fliesen, die wiederkehrenden Standformen – all das sprach für eine typologische Kontinuität. Rossi zog Vergleiche zu antiken Innenhöfen und Theatern: umschlossene Räume, die nicht nur Körper, sondern auch Erinnerungen beherbergen.

«Wenn ich an die Märkte denke, ziehe ich jedesmal eine Parallele zum Theater des 18. Jahrhunderts mit seiner Beziehung zwischen der Bühne als isoliertem Ort und dem Gesamtraum des Theaters. In allen meinen Architekturen bin ich stets vom Theater fasziniert gewesen, auch wenn ich bloss zwei Entwürfe für Theater gemacht habe: als junger Architekt den Entwurf für das Teatro Paganini an der Piazza della Pilotta in Parma und 1979 den Entwurf für das Teatrino scientifico. Der letztere ist einer von den Entwürfen, die ich am allerliebsten habe.»14

Theatralik war für Rossi kein Selbstzweck, sondern eine räumliche Methode. Sie wird im Entwurf für den Sants-Markt deutlich: in der Galerie, die den Blick über das Marktgeschehen lenkt, in der axialen Lichtführung von oben, in der elliptischen Bewegung durch den Raum. Alles scheint choreografiert – für ein Publikum, das zugleich Teil der Szene ist.

15 Aldo Rossi, «Invisible Distances», in: VIA: e Journal of the Graduate School of Fine Arts, University of Virginia 11, S. 84-90.

16 Ebd., S. 89.

17 Victoriano Sainz Gutiérrez «Las Distancias Invisibles. Aldo Rossi y Walter Benjamin.», in: Thémata. Revista de Filosofía, Revista de Filosofía. Número 41,2009, S. 372-399, hier S. 373

18 Walter Benjamin, Berlin Childhood around 1900, Cambridge 1950.

19 Gutiérrez 2009, S. 372.

20 Rossi 1990, S. 86.

Fasching Sants

So bleibt die Vision für den Markt von Sants – als Zeichnung, als konzeptionelle Übung, als architektonisches Denken – bis heute bestehen. In Rossis Sicht sind Märkte keine neutralen Orte, sondern Räume der Verdichtung: Orte, an denen das tägliche Leben sichtbar wird und menschliche Rituale Gestalt annehmen.

Invisible Distances

Aldo Rossis architektonischer Werdegang wandelte sich von der Idee der Architektur als Ganzes zur Poetik der Unvollkommenheit. Sein früher theoretischer Text Die Architektur der Stadt betonte Typologie, Beständigkeit und das kollektive Gedächtnis, das in der städtischen Form gebunden ist. Für Rossi war Architektur ein stabiles Bezugssystem, das durch Wiederholung geformt und in einer gemeinsamen Bedeutung verankert war. In seinen späteren Lebensjahren begann sich dieser Fokus jedoch zu verschieben. Was einst eine formale Theorie war, wurde zunehmend lyrisch: Er wandte sich Fragmenten, Erinnerungen und Gegenständen zu. Das Projekt für die Markthalle von Sants gehört zu dieser späteren Schaffensphase.

In seinem 1990 erschienenen Zeitschriftenartikel Invisible Distances bezieht sich Aldo Rossi auf Goethes Werther, der in seine Heimatstadt zurückkehrt und dort verstört feststellt, dass sich alles verändert hat. Rossi vermittelt dem Leser, dass Architektur wie das Leben mit Sehnsucht und Verlust verbunden ist. Er deutet an: Architektur könne nur ein paar Haufen Erde sein – genug, um Liebe und Tod, jedoch nicht die Wahrheit im endgültigen Sinne zu beherbergen.15

Walter Benjamin ist eine zentrale Referenz in Rossis Reflexionen. Im selben Artikel bezieht er sich auf Benjamins Texte als eines der schönsten Bilder überhaupt und einen Aspekt seines Werks.16 Laut Victoriano Sainz Gutiérrez bezieht sich Rossi mit seinen Zeilen auf Benjamins Schriften aus der Kindheit in Berlin um 1900,17 in dem der Philosoph einen Moment tiefer Achtsamkeit in seinem Zuhauses beschreibt: «Ich hauste wie ein Weichtier in der Muschel im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr. Was höre ich? Ich höre nicht den Lärm von Feldgeschützen oder von Offenbach'scher Ballmusik, […] Nein, was ich höre, ist das kurze Rasseln des Anthrazits, das aus dem Blechbehälter in einen Eisenofen fällt, […] Noch andere Geräusche, wie das Scheppern des Schlüsselkorbs, die beiden Klingeln an der Vorder- und Hintertreppe; endlich ist auch ein kleiner Kindervers dabei.»18

Gutiérrez argumentiert, dass Rossis Werdegang dem Benjamins ähnelt: Beide begannen mit strukturierten, theoretischen Ansätzen und bewegten sich dann hin zu fragmentarischen, poetischen Ausdrucksformen. Rossi bemerkte sogar im Vorwort seiner ausgewählten Texte, dass Benjamins Worte seine Gedanken besser erklären, als er es selbst könne.19 Diese Parallele zwischen dem Architekten und dem deutschen Philosophen ist wichtig für die Interpretation des Projekts in Sants. Wie Benjamins unvollendetes Passagen-Werk sammelt auch Rossis Architektur Fragmente – nicht, um sie zu einem Gesamtbild zu vereinen, sondern um ihre Unterschiede in einer Konstellation zum Ausdruck zu bringen.

In Invisible Distances verweist Rossi auf den Ise-Schrein, der alle 25 Jahre neu erbaut wird, und stellt fest, dass es die Erinnerung ist, die sich im Laufe der Zeit durch Wiedererkennung und Wiederholung offenbart, die den beständigen Wert in der Architektur ausmacht. In ähnlicher Weise liegt die Erinnerung an den Markt von Sants nicht in der Beständigkeit des Ziegelsteins, sondern in ihrer Bedeutung und den Ritualen ihrer Nutzung. Diese Fragmente verbinden Menschen mit Orten, die Rossi als «points of unity»20 bezeichnet, welche wiederentdeckt werden sollen.

Trotz der Vielfältigkeit der Konzeption wurde das Projekt der Markthalle nie realisiert. Im Frühjahr 1990 wurde es vom Konzessionsausschuss eingestellt, wobei laut Mullor und López politische und logistische Herausforderungen eine entscheidende Rolle spielten. Als der Stadtrat von Rossis Beteiligung an der Planung erfuhr, bekundete er Interesse daran, das Projekt zu einer umfassenderen städtischen Initiative für das Viertel auszuweiten. Letztendlich überwog diese Verschiebung der Zielsetzung den ursprünglichen Umfang des Projekts, was zu seiner Einstellung führte. Es bleibt spekulativ, ob die Gemeinde das Projekt in den folgenden Jahren erneut aufgegriffen hätte, doch mit Rossis plötzlichem Tod im Jahr 1997 verlor das Projekt seinen Impuls – Bonet, Mullor und López widmeten sich anderen Aufgaben.

Auch nach seinem Scheitern lebte das Projekt in der Fantasie und Zuneigung der Gemeinde weiter. Im Februar 1991, während des jährlichen Faschings gingen Kinder und Erwachsene in Kostümen auf die Strasse. Einige waren als überdimensionale Buntstifte mit den Namen der Architekten verkleidet, andere trugen abstrakte, vom Markt inspirierte Kostüme. Ein Banner mit Rossis Name wurde entlang der Strasse getragen. Diese Bilder, die Alex Mullor zur Verfügung gestellt hat, sind ein eindrucksvoller Beweis für die emotionale Verbundenheit der Öffentlichkeit mit dem Projekt. Mullor beschreibt diesen Akt als letzten Abschied, der durch eine kollektive Performance inszeniert wurde.

Der Markt wurde schliesslich 2014 unter der Verantwortung des Architekturbüros Pb2 Project renoviert, wobei die Bauarbeiten von Llobet Bach & Associates geleitet wurden. Heute ist fast die Hälfte der Halle von einem Supermarkt belegt, während die andere Hälfte weiterhin als traditioneller Markt mit Händlerständen fungiert. Diese interne Aufteilung spiegelt eine umfassendere Strategie der Stadtverwaltung wider: die historischen Märkte Barcelonas zu erhalten und sie gleichzeitig an den Aufstieg der Supermarktketten und das allmähliche Verschwinden kleiner Händler anzupassen.21 Infolgedessen hat sich die Ellipse, die für die Märkte der Stadt charakteristisch war, aufgelöst.

Die räumlichen Ähnlichkeiten zwischen historischen Stadtplätzen und der Auslegung von Märkten sind keine blossen Nachbildungen oder direkten Verweise. Vielmehr scheinen sie über die Zeit hinweg zu schwingen und Zeichen zu setzen, die unaussprechlich und immateriell, aber dennoch unbestreitbar vorhanden sind. Ebenso besteht zwischen dem, was entworfen, aber nie gebaut wurde, und dem, was hätte sein können, eine tiefe und schwer fassbare Leere, ein Raum voller Spekulationen und Erinnerungen an architektonische Visionen.

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Offene Meta-Landschaften
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1.7.2022Virginia de Diego
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Reductio ad absurdum

Through deliberate destruction a former bunker can be preserved. Its relevance is created out ouf its absurdity. lesen
22/03
Reductio ad absurdum
Artikel 22/02
1.7.2022Jerome BeckerMatthias Moroder

The balance of chaos and structure

In conversation with Jerome Becker and Matthias Moroder, Marc Leschelier emphasises his aversion to functionalism and stresses the importance of architecture as a form of expression. lesen
22/02
Chaos and Structure
Artikel 22/01
1.7.2022Gerrit Confurius
Teatro di Marcello, Rom, Giovanni Battista Piranesi (1720-1778), ca. 1757

Permanenz als Prinzip

Gerrit Confurius erinnert sich an das Ende der gedruckten Ausgabe von Daidalos und empfiehlt das Prinzip der Permanenz als Strategie auch für die zukünftigen Aufgaben der Architektur. lesen
22/01
Permanenz als Prinzip