Covid City

Die private Domestizierung des öffentlichen Raums

Auf öffentlichen Plätzen hören Menschen ungehemmt laute Musik und gehen in Hausschuhen einkaufen. Der städtische Raum wirkt heute oft wie eine Erweiterung des häuslichen. Was manche als störend empfinden, ist für Manuel Delgado die notwendige Humanisierung seelenloser Orte – eine Entwicklung, die unsere Städte verbessern wird, nicht zuletzt wegen der überstandenen Pandemie. 

1 Vgl. Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988. Certeau ist – neben Jane Jacobs, Henri Lefebvre und der Situationistischen Internationale – einer der wichtigsten ideologischen Vertreter des taktischen Urbanismus, der ursprünglich als Widerstand gegen den institutionellen Urbanismus gedacht war.

2Vgl. David Harvey, Spaces of Global Capitalism: Towards a Theory of Uneven Geographical Development. London/New York 2006.

In den grossen Städten der spätkapitalistischen Welt beobachten wir eine zunehmende Privatisierung öffentlicher Räume, verstanden als Orte des freien Zusammentreffens. Diese Privatisierung betrifft nicht nur die Aneignung und Indienstnahme dieser Räume für den privaten Profit, sondern auch ihre Umwandlung in komfortable und sichere Orte mit vorhersehbaren, vertrauensvollen Beziehungen, die sich am häuslichen Umfeld orientieren. Diesen zweiten Prozess könnte man als Domestizierung des öffentlichen Raums bezeichnen – eine doppelte Zähmung, die Konflikte eindämmt und den öffentlichen Raum dem privaten Wohnumfeld annähert.

Der Gegensatz zwischen öffentlichem und privatem Raum ist seit langem in Auflösung begriffen. Ersterer war traditionell eine Arena, in der sich Einzelne den Blicken und Urteilen anderer aussetzten und standardisierte Verhaltensregeln befolgten – Regeln, die auf dem Wissen beruhen, wie man sich unter Fremden zu verhalten hat. Der private Raum hingegen erlaubte ein ungehemmtes, ehrliches und spontanes Verhalten, das keine Rücksichtnahme auf andere erforderte. Diese Trennung wird zunehmend durch Verhaltensweisen aufgelöst, die diese Formalitäten ignorieren und dazu ermuntern, sich im öffentlichen Raum so zu benehmen, als wäre man zu Hause. Fremde, die das Leben ausserhalb der eigenen Wohnung prägten, werden nun wie Vertraute behandelt – nicht nur als Personen des täglichen Lebens, sondern als Mitglieder der eigenen Hausgemeinschaft. So ist es unter Jugendlichen weit verbreitet, sich für die Strasse nicht extra «in Schale» zu werfen, sondern sich bewusst lässig zu kleiden und entsprechend aufzutreten. Die allgegenwärtige Nutzung von Smartphones verstärkt diese Entwicklung: Menschen telefonieren an Orten des kollektiven Lebens, lesen in der Öffentlichkeit persönliche oder intime Nachrichten oder schauen Videos. Kleine Gruppen, die Parks oder öffentliche Plätze zu Picknickplätzen umfunktionieren, sind keine Seltenheit mehr. Es ist nicht ungewöhnlich, Nachbarn im Bademantel oder Schlafanzug im Supermarkt zu sehen. Dies sind nur einige Beispiele für die fortschreitende Aneignung des öffentlichen Lebens durch Praktiken des Privaten und ihre Regeln der Ungezwungenheit. Sie veranschaulichen den Trend zur «Verhäuslichung» (hogarización) des einst anonymen öffentlichen Raums, der sich heute in eine Welt vermeintlicher Bekannter verwandelt hat – eine nicht immer willkommene Quasi-Hausgemeinschaft.

Ihren städtebaulichen Ausdruck findet diese Dynamik im sogenannten taktischen Urbanismus, der sich an den Taktiken orientiert, mit denen die Beherrschten nach Michel de Certeau die Zumutungen der Mächtigen umgehen oder sich ihnen widersetzen.1 Der taktische Urbanismus, der bereits in den 2000er Jahren weit verbreitet war, umfasste kostengünstige, spielerische Eingriffe in die lokale Umwelt unter Verwendung einfacher Materialien: klappbare Picknick-Möbel, farbige Markierungen auf Gehwegen und Strassen, Poller aus Plastik oder Beton, Blumenkübel sowie Baumaterial aus Holz. Dieser Ansatz brachte bald ganz neue Stadtmöbel mit eigenen Namen hervor: Berliner Kissen – Kunststoffhindernisse auf der Strasse, die Fahrzeuge zum Abbremsen zwingen – oder New Jersey Zäune – gelb gestrichene Betonelemente. Eine weitere Intervention war die Schaffung von Parklets oder kleinen Parks auf ehemaligen Verkehrsflächen oder Parkplätzen.

Eine verborgene Wahrheit des öffentlichen Raums

Ziel dieser Interventionen war es, den städtischen Raum innovativ zu nutzen und Inseln sozialer Authentizität zu schaffen – eine Reminiszenz an frühere Zeiten, als Familien Zeit vor ihren Häusern verbrachten, den Raum mit Nachbarn teilten und die Kinder in der Nähe spielten. Fernab des kalten und seelenlosen städtischen Lebens sollte der taktische Urbanismus einen Rahmen für Geselligkeit schaffen und zur Bekämpfung von Luftverschmutzung und Klimawandel beitragen. Die Idee, vor den Zumutungen der Stadt geschützte, bewohnbare Freiflächen zu schaffen, entwickelte sich allmählich zu einer alternativen Stadtplanung. Heute gilt sie als bevorzugte Strategie, um sich Städte ökologisch und mit einem gewissen humanistischen Anspruch kapitalistisch anzueignen. Die Vorzüge des taktischen Urbanismus sind Teil eines moralischen Repertoires, das die räumliche Wende des Neoliberalismus widerspiegelt, in dem Raum eine der Hauptquellen des Kapitalgewinns ist.2

3 Vgl. Marshall Berman, All That Is Solid Melts Into Air: The Experience of Modernity. New York 2010.

Während der Covid-Pandemie fanden diese städtebaulichen Philosophien, die die Zwischenräume von Gebäuden in wohnzimmerähnliche Orte verwandeln wollten, beschleunigt Anwendung. Besonders in den Jahren 2020 und 2021 setzten Grossstädte wie Mailand, Auckland, Lima, Berlin, Bogota, Barcelona, Wien, New York und Medellín solche Massnahmen als Teil ihrer Pandemiebekämpfung um. Fast überall erwiesen sich diese Eingriffe als dauerhaft. Sie wurden als Gelegenheit dargestellt, eine durch die Pandemie sichtbar gewordene Wahrheit über den öffentlichen Raum – nämlich als friedlichen und geselligen Ort – wiederzuentdecken, als seien die Verdrängung des Autoverkehrs und die Schaffung freundlicher Begegnungsstätten die positiven Lehren aus der Gesundheitskatastrophe.

Der durch Covid ausgelöste Gesundheitsnotstand hat zu einer Flut von Analysen, Diagnosen und Prognosen geführt, die auf der Annahme beruhen, ein disruptives Ereignis habe tiefgreifende kulturelle Umbrüche angestossen. Genauso könnte man jedoch argumentieren, der ausgerufene Ausnahmezustand und die Massnahmen zur Pandemiebekämpfung hätten Trägheiten verstärkt, die bereits in der Organisation sozialer Beziehungen in fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften angelegt waren – besonders im öffentlichen Raum, wo Fremde einander begegnen: Die pandemiebedingten Massnahmen beschleunigten nämlich Trends, die sich bereits aus der Digitalisierung, der Einführung von Homeoffice und Fernunterricht sowie der Nutzung von Online-Handels- und Freizeitplattformen ergeben und zu einer Desorganisation des kollektiven Lebens geführt hatten. Zugleich verschärfte das durch die Pandemie entstandene neue Bild die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichende moralische Abwertung städtischen Lebens.3

Um die Pandemie in Städten einzudämmen, regulierten und kontrollierten die Behörden die Aktivitäten im Freien. Überall mussten die Menschen ganz oder weitgehend zu Hause bleiben, öffentliche Plätze meiden und ihre Mobilität einschränken. Flankiert wurden diese Massnahmen durch das obligatorische Tragen von Schutzmasken und das Einhalten von Sicherheitsabständen. Dadurch veränderte sich das Verhältnis zu Menschen ausserhalb des eigenen Haushalts grundlegend, da diese nun als potenzielle Gefahrenquelle galten. Der öffentliche Raum, nun nach dem Prinzip der gegenseitigen Meidung organisiert, verödete zunehmend.

4 Vgl. Georg Simmel, Die Grossstädte und das Geistesleben (1903). Berlin 2006.

5 Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, De Gruyter, Berlin/Boston 2019.

6 Vgl. Richard Sennett, Families against the City: Middle Class Homes of Industrial Chicago, 1872-1890, Boston 1984.

7 Die Darstellung der Stadt als zerstörerischer und grausamer Raum ist in der Fiktion weit verbreitet. Man denke nur an Filme wie Ein Mensch der Masse (King Vidor, 1928), Sonnenaufgang (F.W. Murnau, 1927), Asphalt-Dschungel (John Huston, 1950), Taxi Driver (Martin Scorsese, 1978) oder Blade Runner (Ridley Scott, 1984), um nur einige Beispiele zu nennen.

8 Vgl. Michel Foucault, Discipline and Punish: The Birth of the Prison, New York 1995.

9 Ein Beispiel für eine pastorale Schilderung des städtischen Lebens während der Pandemie findet sich in Berichten über Barcelona. Während des Lockdowns habe „mit der Abnahme des Verkehrs auch der Lärm abgenommen. Und die Summe dieser beiden Faktoren lockte die Vögel von den Baumwipfeln auf die Strassen, Bänke und Brunnen”. (Vgl. Jessica Mouzo, „El año de la pandemia“, El País, 30. Dezember 2020).

Diese erzwungene Nutzung des öffentlichen Raums verschärfte die Prinzipien der Kontaktaufnahme und -vermeidung in einer anonymen, gleichgültigen Welt, wie Georg Simmel sie in seinen Essays über die städtische Moderne beschrieben hat.4 Das hygienische Beharren auf Abstand und Maskenpflicht offenbarte das Wesen der modernen Öffentlichkeit: eine soziale Ordnung, die auf Zurückhaltung, Distanz und Misstrauen gründet. Gleichzeitig werteten die eingeführten Ausgangssperren die eigenen vier Wände als Schutzraum auf, der die Gefahren des Fremden – nun in Gestalt eines hochansteckenden Virus – aussen vor liess. Die Angst vor Covid stellte somit eines der Grundprinzipien der bürgerlichen Gedankenwelt wieder her: das Private als einzig sicheren Rückzugsort angesichts einer chronisch unsicheren, physisch wie moralisch gefährlichen Aussenwelt.

Erinnern wir uns: Die katastrophistische Kritik an der städtischen Erfahrung scheint für die Auflösung kleiner, harmonischer und homogener Gemeinschaften verantwortlich zu sein. Diese konnten nur in Form kasernierter Einzeller-Gemeinschaften überleben, die als letzte Bastion von Kongruenz und organischer Verbundenheit galten. Die Romantik verbindet Urbanisierung und Industrialisierung mit der Zerstörung einer wertegebundenen Gesellschaft und der Wärme zwischenmenschlicher Beziehungen, wie sie angeblich das Landleben prägten. Theoretisch konkretisiert wurde diese Sicht 1887 durch Ferdinand Tönnies und seine Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Letztere, so Tönnies, sei von Kälte und Egoismus geprägt, die das städtische Leben dominierten.5 Seitdem beruht das Lob der Gemeinschaft auf ihrer Abgrenzung von einer negativ konnotierten städtischen Erfahrung. Eine Folge dieser Ablehnung des als schmutzig, unangenehm und seelenlos empfundenen städtischen Lebens war die Stärkung der neuen Kernfamilie Ende des 19. Jahrhunderts. Ihr Kreis bot Schutz vor Trostlosigkeit und Orientierungslosigkeit und wurde zum Refugium – dem Daheim.6 Ebenjenes traute Heim fungiert im neuen Familienmodell als Schutz vor dem vitalen Leben draussen. In der Privatsphäre entfaltete sich das moderne städtische Leben in seiner Natürlichkeit, während das öffentliche Leben als anomisch und destruktiv empfunden wurde.

In den neuen städtisch-industriellen Gesellschaften verwandelte sich der öffentliche Raum in eine unwirtliche Umgebung, in der die warmen Bande vormoderner Gemeinschaften keinen Bestand mehr hatten.7 Draussen, in einer moralischen Wüste voller Gleichgültigkeit, Sünde und Verzweiflung, begegnete man nur noch Fremden, deren Absichten ungewiss blieben. Im Gegensatz dazu bot der häusliche Kern Schutz vor den Grausamkeiten eines öffentlichen Lebens, das von egoistischen Interessen und selbstsüchtiger Heuchelei geprägt war. Das Zuhause galt als Ort, an dem – anders als draussen – Hierarchien und Naturgesetze respektiert wurden und die Urteile einer als unmenschlich empfundenen Aussenwelt keinen Einfluss hatten. So funktionierte die moderne Familie, bestehend aus Ehepartnern und Kindern, nach dem Modell des Nestes. Die mit ihrer Entstehung verbundenen kulturellen Veränderungen führten dazu, dass jeder in seinem eigenen Heim lebte. Was ausserhalb dieses Zuhauses geschah, war demnach kein Leben. Dies galt besonders in pandemischen Zeiten, als das Zuhause nicht nur zum Ort der moralischen Sicherheit und Geborgenheit wurde, sondern auch zum Ort von Freizeit und Arbeit.

Home, Sweet Home

Die aussergewöhnlichen Umstände und Massnahmen der Pandemie liessen alte Ressentiments gegenüber dem öffentlichen Raum erneut aufleben. Während des totalen Lockdowns waren wir gezwungen, die Wohnung als einzigen sicheren Ort zu betrachten. Der Aussenraum hingegen war zur Todesfalle geworden, ein vermintes Gelände, besetzt von einer unsichtbaren Armee mikroskopisch kleiner Killer. Als die Hygienemassnahmen gelockert wurden, durften wir das Haus zwar verlassen, mussten uns aber vor anderen schützen. Jeder ausser den eigenen Mitbewohnern galt als «schlechte Gesellschaft», als potenzieller Agent im Dienste der Pandemie. So wurde jede Wohnung zu einem Raum, der gefährliche und gefährdete Personen «in der Familie» trennte, um sie und uns vor ihnen zu schützen. Wir durften uns nur noch einzeln oder in einer «Mitbewohner-Blase» bewegen, einem Bild für die isolierte Sphäre des Zusammenlebens, die das Zuhause darstellte. Jenseits der eigenen vier Wände lauerten Krankheit und Tod; die Wohnung war die letzte Bastion gegen die tödlich erscheinende Aussenwelt.

Diese beharrlich vorgebrachte Darstellung der häuslichen Isolierung als wirksamster Schutz gegen Covid wurde mit dem Lob eines imaginären Zusammenlebens verknüpft, das einer ebenso imaginären universellen Mittelschicht zugeschrieben wurde. Die Medien – ob Nachrichten oder Werbung – zeigten Familien, die die Isolation nutzten, um häusliche Werte zu zelebrieren. Dabei blendeten sie aus, dass die häusliche Enge für viele zur Hölle wurde: sei es durch Überbelegung, drohende Armut, bevorstehende Zwangsräumungen oder alltägliche Gewalt, der Frauen, Kinder und ältere Menschen ausgesetzt waren. Ebenso ignorierten die Medien die Realität zahlloser Arbeitskräfte – im Gesundheitswesen, im Dienstleistungssektor, in der Landwirtschaft –, die gezwungen waren, ausserhalb ihres Zuhauses zu arbeiten. Für sie lag das Heilmittel gegen Krankheit nicht im Rückzug in die eigenen vier Wände. Dennoch inszenierten die Medien das häusliche Leben als frei von Entbehrungen, Asymmetrien und Unterwerfung und stilisierten die Familie zum Schutzraum vor dem dystopischen Alptraum draussen. Die positive Lehre aus der Katastrophe war die Wiederherstellung des mythischen «trauten Heims», der bürgerlichen Kernfamilie, die sich wie eine Schnecke in sich selbst zurückzog. Währenddessen tobte draussen der Tod – ein Zustand, den Michel Foucault als «Pestzustand» bezeichnete.8

Diese durch die Pandemie ausgelösten Umstände schärften den Blick auf den städtischen Raum als zerstörerische Ödnis und Quelle der Angst und machten deutlich, wie dringend es geworden war, ihn auf gesündere Weise zurückzuerobern. Zugleich lebten die Bedenken der Hygieniker wieder auf, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grosse städtebauliche Reformen wie die von Baron Haussmann in Paris oder Ildefons Cerdà in Barcelona angestossen hatten. Damals zielten die Massnahmen auf eine Desinfizierung der grossen Industriestädte ab; nun übernahmen Massenimpfungen eine ähnliche Funktion: Sie sollten die Bewohner «desinfizieren», die als potenzielle Gefahrenquelle galten.

Neue Soziabilität und Nähe

Mit der Panik, die die Ausbreitung des Virus auslöste, kam es in vielen Städten der Welt zu einer taktischen Stadtplanung. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit und leere Strassen brachten Stadtverwaltungen dazu, den öffentlichen Raum als Reaktion auf die Katastrophe mit überraschenden Massnahmen neu zu beleben. Über Nacht wurden Strassenecken und Fussgängerzonen mit Farben und geometrischen Formen bemalt, Poller, Blumenkübel und Betonblöcke als Sitzbänke aufgestellt, Hindernisse für den Autoverkehr eingerichtet und bewusst rustikales Stadtmobiliar installiert. Gleichzeitig wurden die Radwege ausgebaut. Nach dem Ende des Lockdowns verwandelten Bars und Restaurants viele ehemals öffentliche Parkplätze in Terrassen, um Begegnungen zu ermöglichen.

Behörden und Medien stellten die taktischen städtebaulichen Massnahmen vielerorts als Pilotprojekte dar, die aus dem Gesundheitsnotstand resultierten und das Verhalten von Anwohnern und Passanten neu ordnen sollten. Sie betonten, dass die Veränderungen im öffentlichen Raum nicht nur prophylaktischen Charakter hatten, sondern auch ein ungewohntes Bild schufen. Plötzlich konnten Bürger ihr unmittelbares Umfeld autofrei zurückerobern und mit Nachbarn kommunizieren, die nicht länger als Fremde galten. Zudem gingen die Menschen zu Fuss oder fuhren in sauberen, gesunden Fahrzeugen durch eine Umgebung ohne Lärm und Luftverschmutzung. Sie atmeten frische Luft und lauschten dem Vogelgezwitscher. Eine ländliche Idylle gab eine Vorstellung davon, was sich von Verschmutzung befreien liesse – als wäre die Gesundheitskrise so etwas wie ein Silberstreif am Horizont, eine Lektion, aus der man lernen könne, eine Gelegenheit zur Erneuerung des städtischen Lebens insgesamt.9 Daraus leiteten sich städtebauliche Projekte ab, die die Folgen der Krise aufgriffen, um einen neuen Prototyp der Stadt zu verwirklichen. Man schuf gesündere Umgebungen und inszenierte dies als Sieg über die vermeintliche Schlechtigkeit des städtischen Lebens. Dessen Unmenschlichkeit sollte durch Geborgenheit und Offenheit ersetzt werden – Eigenschaften, die dem idealen Wohnraums zugeschrieben wurden und als neue Soziabilität der Nähe dienen sollten.

Die Covid-Krise erschien als Gelegenheit, auf globaler Ebene Planungsprozesse in Gang zu setzen, die den Klimawandel bekämpfen, ein besseres Zusammenleben fördern und für die Bürger nicht nur akzeptabel, sondern sogar wünschenswert sind. Im Namen dieser hehren Ziele konnten Stadtverwaltungen den städtischen Raum schnell und kostengünstig durch anekdotische, dekorative und periphere Massnahmen umgestalten, ohne dabei den neoliberalen Urbanismus zu stören oder dessen Kontrolle über die Raumplanung infrage zu stellen. Trotz wohlklingender Absichten hat die neue Stadtplanung – anders als ihre ursprüngliche subversive Inspirationsquelle – nichts unternommen, um die soziale Polarisierung, räumliche Segregation oder Wohnungsknappheit zu bekämpfen. Nicht einmal die Umweltverschmutzung hat sie wirklich in den Griff bekommen. Die bestehenden Probleme wurden bestenfalls gemildert, oft jedoch verschleiert oder verdrängt.

Der taktische Urbanismus ist eine der Ausdrucksformen der «moralischen Wende» innerhalb der neuen urbanen Globalisierung und ihres Urbanismus, der auf der Überzeugung beruht, Kapitalakkumulation müsse nachhaltig, inklusiv, partizipativ und der Menschheit dienlich sein. Ein neuer Ansatz war nötig, um die Strasse – Sinnbild des oft beklagten Zustands urbaner Realität – und die Stadt als Abscheulichkeit zu retten und zu erlösen. Dann kam die Pandemie, ein idealer Moment, um die Desinfizierung des öffentlichen Raums voranzutreiben und ihn in eine Nachbildung des hypothetischen bürgerlichen Zuhauses zu verwandeln – eine Welt scheinbarer Herzlichkeit und Zuneigung, in der die typischen Kennzeichen des realen städtischen Lebens – Armut, Ungleichheit und Konflikte – unvorstellbar sind.

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